Als Landvermesser der Seele, der für das Theater funkelnde Stücke voller Hintersinn schrieb, genoss Botho Strauß in der späten Bundesrepublik höchste Reputation. Als Arzt, der der Gesellschaft ungebeten die Krankheitsdiagnose stellt, erntete er vor allem Fassungslosigkeit und Entsetzen.

Als 1993 im deutschen Nachrichtenmagazin Der Spiegel Strauß' Aufsatz Anschwellender Bocksgesang erschien, herrschten im Nachbarland mit heute schwer vergleichbare Zu- und Umstände. In Deutschland brannten lichterloh Asylantenheime. Ein gewaltbereiter Neo-Nazismus gedieh vornehmlich in den neuen Bundesländern. Nationalkonservative und Revisionisten stellten die von ihnen konstatierte "linke" Meinungsführerschaft mit gehässigem Nachdruck infrage. Demokratie und Aufklärung verstanden sich im wiedervereinigten deutschen Staat keineswegs von selbst.

Strauß aber, damals 48 Jahre alt, predigte im würdigen Mantel des aus der Zeit gefallenen Sehers. Der bundesdeutschen Demokratie stellte er das Zeugnis ihrer Überlebtheit aus. Dem eigenen "Volk" beschied er hingegen mit gerümpfter Nase, "korrodiert" zu sein. In den liberal-demokratischen Verfahrensweisen des Interessenausgleichs erkannte er vornehmlich Schwächezeichen.

Nichts als Heuchelei

Die öffentliche Moral? Nichts als Heuchelei. Notorisch verhöhnt würden von Meinungsmachern und TV-Talkern alle haltgebenden Instanzen, die Kirche, der Eros. Durch den Aufklärerhochmut sei zudem der Sinn für alles Tragische verloren gegangen. Botho Strauß plädierte mit aristokratischem Stolz für die "Rechte". Gegen die Umtriebe der neuen, vulgären Nazis nahm er diese mit ärgerlichem Nachdruck in Schutz: "Der Rechte in solchem Sinn ist vom Neonazi so weit entfernt wie der Fußballfreund vom Hooligan ..."

Seinen bundesdeutschen Zeitgenossen richtete der Dichter aus, sie hätten sittlich über ihre Verhältnisse gelebt. Kein Wunder also, dass allenthalben Gewalt geübt würde. Strauß stieß sich, so wie später Martin Walser, an der Gedenkkultur und hielt der Gesellschaft im Gegenzug ihre Oberflächlichkeit vor. Er selbst sprach im Namen einer weitaus wichtigeren Instanz: der "langen, tiefen Zeit". Diese ermöglicht den Blick in schwindelerregende Tiefen. Sie kennt noch das Leid (viel seltener das Glück), von den tölpelhaften Vertretern der "öffentlichen Intelligenz" kann sie unmöglich ausgeforscht werden.

Die Generalabrechnung

Strauß' hochmütige Verlustanzeige wurde von der deutschen Öffentlichkeit überwiegend verärgert zur Kenntnis genommen. SPD-Denker Peter Glotz nannte ihren Autor gar einen "Wirrkopf".

Abseits von Geschmacksfragen erweist sich Botho Strauß' Generalabrechnung mit dem damals "links" verorteten Zeitgeist aber als gegenwartsnah und analysetauglich. Ein Vierteljahrhundert nach dem Bocksgesang grundiert sein Brunft- und Wehgeschrei die Revanchegelüste aller jener Populisten, zu deren Agenda es erklärtermaßen gehört, mit dem liberalen Erbe von 1968 abzurechnen.

Der "Leitbild-Wechsel", von dessen Notwendigkeit Strauß bis heute zutiefst überzeugt ist, schließt die Abrechnung mit allen Aspekten von Demokratie ein, die man "einbeziehend" ("inklusorisch") nennen könnte.

Vernunftgebrauch der Gutwilligen

Der bundesdeutsche "Verfassungspatriotismus" (Jürgen Habermas) findet seine Entsprechung auf der Ebene der Europäischen Union. Auf allen Politikebenen werden Argumente ausgetauscht und Interessen miteinander abgeglichen. Allen diesen Verfahren liegt die Idee zugrunde, dass die vorauszusetzende Verständigung auf dem Vernunftgebrauch der Gutwilligen basiert.

Doch gerade von diesem Prinzip wendet sich Botho Strauß im Bocksgesang mit Grausen ab: "Die Schande der modernen Welt ist nicht die Fülle ihrer Tragödien, darin unterscheidet sie sich kaum von früheren Welten, sondern allein das unerhörte Moderieren, das unmenschliche Abmäßigen der Tragödien in der Vermittlung."

Der Mann kann beruhigt werden. 25 Jahre später gibt es nicht nur im Mittelmeer "unabgemäßigte" Tragödien genug. (Ronald Pohl, 23.6.2018)