Cover: Dumont

Der Zürcher Armenarzt Fritz Brupacher war sich nach einem Besuch des Monte Verità im Jahr 1907 sicher, gerade die "Hauptstadt der psychopathischen Internationale" gesehen zu haben. Erich Mühsam, wie Brupacher Anarchist, sah auf dem Hügel nahe dem Fischerdorf Ascona in der italienischsprachigen Schweiz hingegen die Utopie einer "Republik der Heimatlosen" verwirklicht. Einzig die vegetarische Nahrung im "Salatorium" und das Alkoholverbot in diesem vermeintlichen Paradies südlich der Alpen behagten ihm nicht. Er flüchtete ins Dorf hinunter, um ein Beefsteak zu essen. Es sei, schreibt er in seinen Unpolitischen Erinnerungen, das beste seines Lebens gewesen.

Die freie Liebe

Bis heute wird der Monte Verità als Sammelbecken einiger nackter Luft- und Sonnenanbeter sowie Barfußpazifisten, die der freien Liebe frönten, verharmlost. Oder er wird als "Bermudadreieck des Geistes" (Harald Szeemann) glorifiziert, in dem sich Vegetarier, Edelindividualisten, Nudisten sowie Künstler trafen – und nach kurzer Zeit wieder verschwanden. Dass es sich beim Monte Verità um weit mehr als eine vom Wind der Zeit verwehte Utopie handelt, wird bei der Lektüre von Peter Michalziks Sachbuch 1900 indes nach wenigen Seiten klar. Denn man haftet sich in der Beschäftigung mit dem Monte Verità, so Michalzik, nicht nur an die Fersen einer "anderen Moderne, einer nicht technischen, nicht naturwissenschaftlichen, nicht merkantilen oder ökonomischen Bewegung". Man lernt auch, dass die kleine Gemeinschaft, die sich in den ersten 20 Jahren des vergangenen Jahrhunderts auf der Anhöhe versammelte, Fragen von ungebrochener Aktualität aufwarf: Wie soll ich leben, damit die Welt ein guter Ort wird? Wie kann ich pfleglich mit der Natur umgehen? Wie soll ich mich ernähren? Wie werde ich gesund?

Der hohe Hügel

Es war in jenem titelgebenden Jahr 1900, als die aus Sachsen gebürtige Ida Hofmann, der belgische Industriellensohn Henri Oedenkoven sowie die deutschen Brüder Karl und Arthur (Gusto) Gräser eine "vegetabilische Kooperative" auf einem 300 Meter hohen Hügel nahe Ascona gründeten, den sie Monte Verità tauften. Henri hatte einige Hektar Land gekauft, man machte es urbar, begann, Hütten und ein Sanatorium zu bauen. Das Konzept von vegetarischer Ernährung, viel Licht, Luft und Arbeit im Freien fand Anklang, so wie die aus einer losen Kutte und Sandalen bestehende "Reformkleidung", die viele bald ablegten, um im Adamskostüm noch mehr Licht und Luft zu genießen.

Die Verwicklungen

Dieser Aufbauzeit folgten turbulente Phasen. In der zweiten kamen zu den Nackten bald oben erwähnte politisch Roten – und vor allem der Grazer Psychoanalytiker und Prophet eines erotischen Matriarchats Otto Groß, der die Geschichte des Monte Verità maßgebend beeinflusste. Mit ihm hielten die amourösen Verwicklungen, Skandale und Frauenselbstmorde Einzug, die den Monte Verità bald in die Schlagzeilen brachten. Die dritte Phase begann mit dem Ersten Weltkrieg, in dem viele Künstler (auch die Dadaisten) anreisten, die sich vom Ruf des Hügels und seiner Freiheit, auch der Freiheit von Krieg, angezogen fühlten. 1920 wanderten Oedenkoven und Ida Hofman zermürbt von zahlreichen Streitereien nach Brasilien aus.

Stärker als Männer

Michalzik skizziert nicht nur die Geschichte des Monte Verità, er zeichnet auch das Porträt einer Umbruchzeit. Richtig stark ist sein Buch in den kleinen Porträts, die der Autor nicht nur den Hauptprotagonisten des Monte Verità widmet, sondern auch anderen Personen, die den Hügel besuchten oder auf ihm lebten, zum Beispiel Max Weber, Hermann Hesse, Gräfin Reventlow oder Rudolf von Laban, der mit Mary Wigman den Ausdruckstanz in Ascona erfand. Dazu porträtiert der Autor auch viele wenig bekannte, noch zu entdeckende Figuren, vor allem Frauen, die den Berg stärker als die Männer prägten. Peter Michalziks Sachbuch ist trotz des immensen Faktenwissens, das in ihm steckt, vor allem eine große Erzählung über ein anderes, richtiges Leben, in der viel Herzblut steckt. Erzählt wird die Geschichte eines Traumes. Unter anderem davon, dass es dereinst eine Lebensweise geben könnte, die nicht auf Ausbeutung, sondern auf der Arbeit von Maschinen beruht – und auf Umverteilung. Henri Oedenkoven sprach diesen Traum in einem Interview an, das er einer US-Zeitschrift gab. Im Jahr 1902. (Stefan Gmünder, 25.6.2018)