Wie legen wir's an? John Coltrane (re.) und McCoy Tyner im Gespräch.

Universal

Der Satz "Improvisation ist nur der verzweifelte Versuch, sich an eine Melodie zu erinnern" wird regelmäßig zum Aphorismus, der in Musikerkreisen für Gelächter sorgt. John Coltrane hätte nicht gelacht. Der Mann aus Hamlet, North Carolina, war der Inbegriff des grübelnden Improvisators. Das Ersinnen von Echtzeitideen war ihm eine die Existenz fordernde, spirituelle Übung. "Mein Ziel ist ein religiöses Leben, das ich in meiner Musik vermitteln will. Meine Musik ist der Ausdruck von dem, was ich bin. Ausdruck meines Glaubens, Wissens, meines Seins."

Nicht von Anbeginn an: Als traditionell agierender Instrumentalist, der im ersten Quintett von Trompeter Miles Davis zum Star wurde, entwickelte sich Coltrane langsam zum alle Regeln über Bord werfenden, gläubigen Ekstatiker. Nach überwundener Heroinsucht komponierte er aus diversen religiösen Ideensplittern einen subjektiven Kosmos. Dessen "Soundtrack"? Er bestand aus spielerischer Verzückung, Materialweitung und -ausreizung. In der Suiteneinspielung A Love Surpreme (1964) fand der Ansatz einen epischen, quasi das Unendliche vertonenden Ausdruck.

Unterschwellig loderte in Coltrane aber auch der Konflikt zwischen kommerziellen Zwängen und dem Drang, den eigenen Ausdruck innovativ ausbrechen zu lassen. Insofern trägt das entdeckte Album Both Directions at Once: The Lost Album, das am 6. März 1963 nördlich von Manhattan im Studio von Rudy Van Gelder aufgenommen wurde, einen treffsicheren Titel.

Modal mit Miles

Mit dem Classic Quartet (Bassist Jimmy Garrison, Schlagzeuger Elvin Jones und Pianist McCoy Tyner) blickte Coltrane einerseits auf seine kommerziellen Erfolge wie die Einspielung My Favorite Things zurück. Zum anderen gehen jene schon in den späten 1950ern bei Miles Davis begonnenen modalen Experimente Richtung freier Improvisation weiter.

Both Directions at Once enthält denn auch sieben Titel, in denen Coltranes Gespaltenheit zwischen Kommerz und Innovation dokumentiert ist. Da wäre Nature Boy: Dieser durch Nat King Cole bekannt gewordene Schlager wird nur kurz angetupft, um nervösen Linien Platz zu machen, die jegliche Hoffnung auf Hitparadentauglichkeit pulverisieren.

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Da ist auch eine erste brav-anämische Version von Franz Lehárs Vilja-Lied aus der Lustigen Witwe. Immerhin: In der zweiten Fassung leuchtet plötzlich eine abstrakte Intensität auf, die auch bei zwei Stücken ohne Titel exzessiv zum Vorschein kommt. Mit dabei ist die bekannte Coltrane-Komposition Impressions, in der sich quasi Miles Davis' modales Stück So What originell spiegelt. Das Stück erscheint auf der Doppel-CD in gleich vier Versionen, von denen die finale am interessantesten scheint: Coltrane verzichtet aufs Klavier; er will ohne Harmonien mehr Abstraktionsfreiheit erlangen. Impressions zeigt den wahren Reiz der Veröffentlichung: Coltrane ist hier beim Experimentieren zu belauschen. Auch der Slow Blues vermittelt einen formsprengenden Exzess, mit dem eher nur in einem Konzert zu rechnen wäre.

Dokument der Ekstase

Obwohl sich das Quartett hier als jenes magische Kraftfeld präsentiert, das längst hochkarätiger Teil der Jazzhistorie ist, hätte Coltrane die Einspielung wohl nie erscheinen lassen, ohne einiges zu straffen oder zu präzisieren. Warum die eintägige Session nicht zu seinen Lebzeiten herausgekommen ist, bleibt unklar. Nach der Aufnahme am 6. März ging es für die Band ins Birdland zum Gig. Am nächsten Tag kam man zurück, um mit Crooner Johnny Hartman ein Hitalbum aufzunehmen. Coltrane klingt plötzlich ganz traditionell, viel sanfter als am Vortag.

Die Studiobänder gingen jedenfalls verloren. Coltrane hatte sich allerdings eine weitere Aufnahme gesichert. Er gab sie an seine damalige Ehefrau Juanita Naima Coltrane weiter, deren Familie die Bänder nun dem Label Impulse überreichte, auf dem Coltrane bis zu seinem Tod Wesentliches veröffentlichte. Logisch: Ravi Coltrane, Saxofonist und Sohn aus zweiter Ehe, betreute dieses Projekt.

Wegen Both Directions at Once muss die Jazzgeschichte keinesfalls umgeschrieben werden. Es ist punktgenau so, wie es Saxofonist Sonny Rollins formuliert: Es fühle sich an, "als ob man eine neue Kammer in der großen Pyramide finden würde", so der Jazz-Doyen, der einst vor Coltrane im ersten Davis-Quintett mitgewirkt hat. Diese Kammer wirkt allerdings schon wie ein brennendes Vorzimmer zu jenem Raum der Ekstase, der am Ende des Coltrane-Weges steht.

Wer den wilden Monolog etwa bei Offering aus 1967 hört, erkennt einen Schmerzensgesang, der die freejazzige Pulverisierung aller Parameter vollzogen hat. Hier spielt einer, als wäre es das letzte Mal, als bliebe ihm nicht viel Zeit. Tatsächlich starb Coltrane am 17. Juli 1967, er wurde gerade einmal 40. Er konnte nicht erleben, dass die Zeit des Jazzrock kam und Miles Davis begann, sich sehr bunt zu kleiden. Darüber aber hätte Coltrane wohl doch gelacht. (Ljubiša Tošić, 25.6.2018)