Ursula Hemetek, Wittgenstein-Preisträgerin 2018, forscht über die Musik und deren soziologischen Kontext bei ethnischen Minderheiten in Österreich.

Foto: mdw/Doris Piller

Bild nicht mehr verfügbar.

Eine Roma-Blasmusikkapelle in Skopje (Mazedonien)

Foto: Tjaden / laif / picturedesk.com

Begonnen hat alles mit ihrer Doktorarbeit über die Hochzeitslieder der burgenländischen Kroaten in Stinatz. Das war im Jahr 1987, Ursula Hemetek studierte Vergleichende Musikwissenschaft an der Uni Wien und war damals schon mit einem Kroaten verheiratet. Die Musik der Burgenlandkroaten erschien ihr als gute Möglichkeit, tiefer in die Kultur seiner Heimat einzudringen.

Das burgenländisch-kroatische Lied "Ca mi se to bijeli" (Was ist Weißes dort), aufgenommen in den 1980er-Jahren in Stinatz. Es verwendet die transformierte Melodie des Liedes "La Paloma". (Quelle: Ursula Hemetek)

Aus diesem sehr persönlichen Zugang erwuchs eine Forschungsleidenschaft, aus der ein völlig neues Feld innerhalb der Ethnomusikologie entstehen sollte: die Minderheitenforschung. Am Institut für Volksmusikforschung (damals noch ohne die Erweiterung "und Ethnomusikologie") der Hochschule für Musik und darstellende Kunst in Wien hatte sie dann auch die Möglichkeit, ihr wissenschaftliches Lebensthema umzusetzen. Im Rahmen des "Minderheitenschwerpunkts", der dort 1990 eingerichtet wurde, forschte sie etwa zur "Musik der Roma in Österreich", zur "Musik der Bosnier in Wien" oder zu "Einwanderer-Musikkulturen".

Ihre Expeditionen in die musikalischen Welten fremder Kulturen führten sie weit aus dem universitären Elfenbeinturm hinaus. "Ich habe immer versucht, auf politische Ereignisse, die auch unser Fach betreffen, zu reagieren", sagt Ursula Hemetek. Ethnomusikologische Minderheitenforschung ohne gesellschaftspolitisches Engagement war für sie nicht denkbar. Als sie Ende der 1980er-Jahre mit der Erforschung der Roma-Musik begann, wurde diese Volksgruppe offen diskriminiert, über ihre Kultur wusste man nichts, und der Hype um den Gipsy-Sound war noch Zukunftsmusik. "Ich wollte auf das enorme kulturelle Potenzial der Roma aufmerksam machen und habe begonnen, mit dem neuen Roma-Verein in Oberwart öffentliche Kulturpräsentationen zu organisieren."

Mit ihrer Arbeit über die Roma-Musik hat sie auch die Weichen zur Internationalisierung des Forschungsfeldes gestellt: "Ich war damals in Österreich die einzige Musikethnologin, die sich mit Roma-Musik beschäftigt hat", erinnert sich Hemetek. "Viele Kollegen haben mich deshalb mit großer Skepsis betrachtet, und mitunter wurde ich auch vor 'diesen Leuten' gewarnt." Mit solchen Reaktionen konfrontiert, hat sie sich ihre Verbündeten kurzerhand im Ausland gesucht. "Roma-Musik ist ja ein internationales Phänomen." Ihre internationale Vernetzungsarbeit führte zur Gründung einer Studiengruppe innerhalb des International Council for Traditional Music ICTM, deren Vorsitz sie bis zum vergangenen Jahr innehatte.

Identitätsfragen

Mit den Jugoslawienkriegen und der großen Flüchtlingswelle aus Bosnien änderte sich auch Ursula Hemeteks Forschungsfokus: 1995 startete sie ein langjähriges Projekt zur "identitätstragenden" Musik der bosnischen Flüchtlinge in Wien. Im Zentrum stand dabei die traditionelle Liedgattung der Sevdalinka, "weil sich damit alle drei in Bosnien lebenden Ethnien identifiziert haben". Wie bei ihren Roma-Projekten hat sich die Wissenschafterin auch hier für die öffentliche Präsentation dieser Minderheitenkultur engagiert. "Die Flüchtlinge wollten nicht nur als bemitleidenswerte Opfer gesehen werden, sondern auch zeigen, dass sie in die österreichische Gesellschaft auch kulturelle Werte einbringen können."

Türkische Hochzeitsmusik, gespielt mit Davul (Trommel) und Zurna (Schalmei), 1995 bei einer alevitischen Hochzeit aufgenommen. (Quelle: Ursula Hemetek)

Immer wieder waren es die großen (welt-)politischen Ereignisse, die Ursula Hemeteks Forschungsthemen mitbestimmten. Als sich ab 2001 im Zuge von 9/11 eine wachsende Islamfeindlichkeit in der Bevölkerung breitmachte, rückten die nach Wien eingewanderten Türken mit ihrer Musik verstärkt ins Zentrum der Untersuchungen. Gesellschaftspolitisch gesehen ging und geht es ihr dabei nicht zuletzt um die Mitgestaltung der öffentlichen Diskurse. "Durch meine Arbeit bin ich mit vielen Menschen und Organisationen in Kontakt gekommen, die meinen Blick auf die Gesellschaft verändert haben", berichtet sie. Die Doyenne der ethnomusikologischen Minderheitenforschung leitet nun seit 2011 das Institut für Volksmusikforschung und Ethnomusikologie. "Mein Denken, Handeln und Forschen hat sich dadurch politisiert." Das hatte neben den wissenschaftlichen immer auch ganz praktische Auswirkungen. So war Ursula Hemetek etwa an der Gründung des Romano Centro sowie der Initiative Minderheiten beteiligt.

Das "Oberwarter Lied", das die Romasängerin Ruzsa Nikolic-Lakatos anlässlich des Attentats von Oberwart 1995 gemacht hat. Sie hat dafür eine überlieferte Melodie mit einem neuen Text versehen, der vom Attentat erzählt.(Quelle: Ursula Hemetek)

Vor kurzem erhielt die 61-jährige Musikwissenschafterin für ihre Forschungsleistungen die hochkarätigste wissenschaftliche Auszeichnung, die Österreich zu vergeben hat: den mit 1,4 Millionen Euro dotierten Wittgenstein-Preis.

Dieses Geld will sie nun in ein neues Forschungszentrum für Ethnomusikologie und Minderheiten investieren. Eine Investition, die vor allem eines sein sollte: nachhaltig. Deshalb soll das Zentrum an "ihrem" Haus, der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien, entstehen. "Ich möchte es an einer Institution ansiedeln, die nicht nach ein paar Jahren aus Geldmangel wieder verschwindet", bekennt Ursula Hemetek.

Fluchtszenarien

"Außerdem ist es mir wichtig, das aufgebaute Wissen weiterzugeben und den Nachwuchs zu fördern – auch das ist ein wesentlicher Aspekt von Nachhaltigkeit." Und selbstverständlich muss das geplante Zentrum international ausgerichtet sein: "Das Thema 'Flucht' betrifft ja viele Länder. In der Forschung muss man Synergien schaffen, indem man unterschiedlichste Fluchtszenarien in den Fokus nimmt."

Ob es für sie nach 30 Jahren als Musikethnologin überhaupt noch so etwas wie exotische Musikstile gibt? "Wenn ich etwas völlig Unbekanntes höre, das mit der eigenen musikalischen Sozialisation nicht zu fassen ist, fange ich an, mich damit zu beschäftigen – Aufnahmen zu machen, zu transkribieren und zu analysieren. So wird mir diese Musik immer vertrauter, und das Exotische daran löst sich auf. Das ist das Großartige an der Musikethnologie." In einem aktuellen Projekt mit jungen afghanischen Flüchtlingen hat sich die Exotik aber selbst für sie noch nicht verflüchtigt: "Wir haben ihre Musik übers Handy kennengelernt, und ich bin immer noch dabei, sie zu deuten." (Doris Griesser, 27.6.2018)