Wien – Angst sei in der Nacht des 1. Oktober das bestimmende Element bei einem zufälligen Treffen zweier Gruppen junger Männer gewesen, sagen alle Beteiligten. Nämlich die Angst, dass die andere Seite die eigene schwer verletzt. Für einen 21-Jährigen endete die Begegnung tödlich, ein zweiter wurde lebensgefährlich verletzt, daher müssen sich Deni G. und Rohullah R. vor einem Geschworenengericht unter dem Vorsitz von Claudia Zöllner verantworten.

Erstangeklagter G. erfüllt auf den ersten Blick alle Klischees des gewaltbereiten Tschetschenen: Der 22-Jährige ist ehemaliger Boxer, der auch internationale Kämpfe ausgetragen hat, arbeitslos und war mit einem Messer in der nächtlichen U-Bahn-Station Thaliastraße.

Staatsanwältin Viktoria Berente bemüht sich in ihrem Eröffnungsplädoyer daher, dieses Bild bei den Geschworenen zu verfestigen. G. habe "unbegreiflich aggressiv und gewaltbereit" gehandelt, "wie wild" auf sein Opfer eingestochen und nach dem Angriff "keine Spur von Reue" gezeigt.

"Heftiges Wortgefecht" und Handgreiflichkeiten

Die Anklägerin schildert den Verlauf der Sache so: "Die beiden Angeklagten sind mit zwei Freunden fortgegangen. Es hätte ein ganz normaler Abend werden können, hat aber ein fatales Ende genommen." Die vier Burschen seien auf dem Heimweg auf drei Serben gestoßen, nach einem "heftigen Wortgefecht" sei es zu Handgreiflichkeiten gekommen.

Daraufhin habe G. mit seinem Messer achtmal auf seinen Kontrahenten eingestochen. Der Zweitangeklagte R. soll versucht haben, den Schwerstverletzten noch gegen den Kopf zu treten, ihm wirft Berente versuchte absichtliche schwere Körperverletzung vor.

Es liegt also an G.s Verteidiger Rudolf Mayer, an sich nicht für ein Übermaß an politischer Korrektheit bekannt, Berentes Bild der Situation zu übertünchen. "Von den drei Serben haben bei der Polizei zwei gelogen", merkt Mayer beispielsweise an und meint damit die überlebenden Zeugen.

Videoaufnahmen widerlegten Opfer

Der schwerverletzte J. sagte im Krankenbett zunächst noch, die andere Gruppe habe mit dem Angriff begonnen. Die Videoaufnahmen aus der U-Bahn-Station widerlegten ihn – er und der Getötete rannten auf die Gegner zu und schlugen auf sie ein.

G. habe auch drei Jahre als Supermarktkassier gearbeitet und erst einen Monat vor dem Vorfall wegen Rückenproblemen gekündigt, erklärt der Verteidiger. Und hochaggressiver Gewalttäter sei G. ebenso wenig: In den zehn Jahren, die er in Österreich lebt, sei er unbescholten geblieben, auch mit Türstehern, die seine Gruppe vor den tödlichen Stichen nicht in Lokale gelassen haben, habe es keine Probleme gegeben.

Und schließlich spiele auch G.s Sport keine Rolle, spricht Mayer aus Erfahrung: "Ich boxe selbst seit 55 Jahren." G. sei 1,70 Meter groß und wiege 66 Kilogramm, das Opfer war 1,92 Meter groß und wog 90 Kilo, Zeuge J. ist nur unwesentlich kleiner. "Wenn Sie zwei angreifen, die einen Kopf größer sind, haben Sie auch als Boxer keine Chance!", appelliert der Verteidiger daher.

Messer als tschetschenische Tradition

Auf dieser Verteidigungslinie bewegt sich logischerweise auch der Erstangeklagte: Er habe aus Notwehr zugestochen, da er Angst gehabt habe, wie er mit leiser Stimme erklärt. "Warum nehmen Sie ein Messer mit?", will Vorsitzende Zöllner von ihm wissen. "Das war nicht absichtlich, es ist daheim auf der Kommode gelegen." – "Warum haben Sie überhaupt eines?" – "Das ist eine tschetschenische Tradition, dass man ein Messer hat, wenn man älter ist." Bei der Polizei hatte G. die Frage noch anders beantwortet: "Weil wir fortgegangen sind und ich nicht wusste, was passieren würde."

Er traf sich jedenfalls mit dem Zweitangeklagten, einem 27-jährigen Afghanen, und zwei weiteren Freunden, man trank Alkohol auf der Donauinsel. Die anschließend geplanten Lokalbesuche scheiterten an den jeweiligen Türstehern. "In der einen Disco hat er gesagt, wir seien schon zu betrunken." Auch der zweite Versuch blieb erfolglos: "Dort hat man gesagt, wir brauchen weibliche Begleitung." Man versuchte sogar eine junge Passantin mitzunehmen, kam dennoch nicht hinein und wollte heimfahren.

Auf dem Bahnsteig traf man die junge Passantin zufällig wieder, die sich gerade von den drei Serben eine Zigarette schnorren wollte. Die waren Nichtraucher oder nicht zum Teilen aufgelegt, die Frau kam daher zu G. und seinen Begleitern.

Beschwichtigungsversuch in zwei Sprachen

Plötzlich sei einer der Serben gekommen und habe aggressiv geredet – auf Serbisch. "Ich habe ihn nicht verstanden, aber er war laut. Ich habe auf Deutsch und Englisch gesagt, dass ich kein Problem haben will, dann ist er gegangen", sagt G. Nicht für lange, wie die Videoüberwachung zeigt.

"Ich wurde dann an die Wand gedrängt und habe mein Messer gezogen, um mich zu verteidigen", beteuert der Erstangeklagte. "Jetzt haben Sie erzählt, dass Sie Boxer sind. Hätten Sie die beiden nicht anders abwehren können?", will Zöllner wissen. "Ich dachte mir, wenn ich zuschlage und nicht richtig treffe, dass sie umfallen, bringen die mich um."

Acht Stiche in Hals und Oberkörper versetzte G. dem Getöteten, vier waren es bei Zeuge J., der dadurch ebenfalls lebensgefährlich verletzt wurde, ehe die Serben flüchteten. G. schleuderte ihnen sogar noch das Messer nach, ehe sich auch er und seine Begleiter aus dem Staub machten.

Draußen saß der sterbende Gegner blutüberströmt am Boden, Zweitangeklagter R. soll laut Zeugen, darunter Freunde von ihm, die ihn zurückhielten, versucht haben, gegen den Kopf des Opfers zu treten. Was der von Wolfgang Haas Verteidigte ursprünglich zugegeben hat, nun sagt er, er habe zwar den Fuß gehoben gehabt, den anderen aber sicher nicht verletzen wollen.

"Komische Blicke" als Auslöser

Zeuge J. schildert, nachdem seine Gruppe der jungen Frau die Zigarette verweigert habe, sei die Stimmung auf dem Bahnsteig angespannt gewesen. "Die Jungs haben uns komische Blicke zugeworfen." Eine Aussprache scheiterte an der Sprachbarriere, da er nur Serbisch spreche.

"Ich dachte, die Situation ist beendet, da wir uns nicht verstehen, da hat einer von denen begonnen, sich wie ein Tier zu verhalten", erzählt der 25-Jährige dem Gericht. Was er damit meint? "Seine Körperhaltung war angriffsbereit." J. und der Getötete entschieden sich also für den Erstschlag. "Ich habe um mein Leben gekämpft!", betont er. Es sei ein Handgemenge entstanden, dass er gestochen worden sei, habe er erst später bemerkt, als ihm das Blut herunterlief.

Um die Wahrheitsliebe des Zeugen in Zweifel zu ziehen, hält Verteidiger Mayer ihm nicht nur seine eindeutig falschen ersten Angaben im Spital vor. Sondern er klärt die Geschworenen auch darüber auf, dass J. damals mit einer falschen bulgarischen Identität in Wien lebte, da ihm in seiner Heimat vier Jahre Haft wegen Drogenhandels drohen.

Die Geschworenen erkennen den Angeklagten in der Nacht auf Dienstag mit 6:2 Stimmen im Sinn der Anklage für schuldig. Er erhält wegen Mordes und versuchten Mordes 20 Jahre Haft. Das Urteil ist nicht rechtskräftig. (Michael Möseneder, 25.6.2018)