Als bekannt wurde, dass in das leerstehende Lokal Ecke Berggasse/Wasagasse im neunten Wiender Gemeindebezirk ein schwules Lokal und eine schwule Buchhandlung einziehen sollten, schaute der rote Bezirksvorsteher Johann Benke persönlich auf der Baustelle vorbei, um Erkundigungen einzuziehen. Die Schülerinnen und Schüler des nahegelegenen Gymnasiums Wasagasse mussten ja regelmäßig auf dem Weg zu ihrem Turnsaal am Café Berg und der Buchhandlung Löwenherz vorbeigehen. Da gab es durchaus Bedenken, die aber schon im Vorfeld entkräftet werden konnten. Was blieb, ist, dass der Eingang der Buchhandlung seither für Generationen Pubertierender eine Mutprobe darstellt.

Auch die Gerüchteküche in der Buchhandelsszene brodelte, als sich die Löwenherzen bei Buchauslieferungen und Vertreterinnen und Vertretern vorstellten. Wir haben doch gar keine "schwulen" Bücher, meinten manche und waren dann erstaunt, wie viele sich bei genauerer Betrachtung doch fanden. Bis heute ist es eine Unsitte großer Verlagshäuser, homosexuelle Aspekte belletristischer Texte zu verschweigen, um ein Mainstreampublikum nicht zu verschrecken. Doch die Gründungsbuchhändler von Löwenherz – einer steht in Person von Jürgen Ostler bis heute mit seinem erst später dazugekommenen Kompagnon Veit-Georg Schmidt hinter dem Büchertresen – waren gut vorbereitet. Monatelang hatten sie in den schwulen Buchläden in München, Hamburg und Berlin Sortimente durchwühlt, Bestelllisten durchforstet, Kontakte zu Szeneverlagen aufgenommen und Liefervereinbarungen mit Großhändlern in England und den USA geschlossen.

Löwenherz kurz vor der Eröffnung im Jahr 1993.
Foto: Buchhandlung Löwenherz

Die Freuden der Schwulen

Zur Eröffnung standen etwa 3.500 vornehmlich deutsch- und englischsprachige Bücher in den Regalen. Schwule Romane und Kurzgeschichten, schwule Lyrik, so unverkäuflich sie war, Kunst- und Fotobände, Ratgeber, Biografien und zahlreiche oft englischsprachige wissenschaftliche Literatur zu schwuler Geschichte, Literatur, Kunst, zu sozialwissenschaftlichen Themen, Psychologie und HIV/Aids. Und natürlich gab es auch Bücher, in denen lustvoll und selbstbewusst von schwulem Sex erzählt wurde, was Löwenherz schon wenige Monate nach der Eröffnung 1993 zum ernsthaften Problem wurde.

Eines Morgens stand die Polizei vor der Tür und beschlagnahmte die Lieferung eines deutschen Verlags, drei erotische Romane und den Sexratgeber "Die Freuden der Schwulen", der nicht nur über Sexualpraktiken sondern auch über das Übertragungsrisiko von HIV aufklärte. Die darin enthaltenen Zeichnungen, die homosexuelle Handlungen darstellten, waren nach dem damals noch geltenden Pornografiegesetz verboten, denn die Darstellung von gleichgeschlechtlichem Sex galt als "harte" und damit verbotene Pornografie. 

Jahr des Aufbruchs

Einerseits war das Jahr 1993 ein Jahr des Aufbruchs. Im Mai fand der erste Life Ball im Rathaus statt und verhalf damit nicht nur der Aidskrise, sondern auch der von ihr damals hauptsächlich betroffenen Gruppe der schwulen Männer zu vermehrter Sichtbarkeit. Im Juni folgte mit der Eröffnung des Café Berg und der Buchhandlung Löwenherz ein weiterer Schritt in die Öffentlichkeit. Das Berg, der erste Szenetreffpunkt, der auch tagsüber geöffnet hatte, wurde bald zu einem hippen Hotspot der Stadt, in dem sich nicht nur die queere Community traf. Zum ersten Mal zeigte sich ein Szenelokal mit großen Fenstern, mit Schanigarten – und ohne den Stallgeruch der Diskriminierung. Die Buchhandlung Löwenherz hingegen stellte ein vielfältiges, internationales schwules, lesbisches und schlussendlich queeres Leben in Form von Büchern und Filmen in die Auslage und forderte auch die akademische Forschung an den Universitäten mit seinem breiten Angebot an aktueller Forschungsliteratur zur Reaktion heraus und befeuerte den akademischen Diskurs. Es war erst fünf Jahre her, dass 1988 erstmals der Begriff Homosexualität im Titel einer Lehrveranstaltung an der Universität Wien vorgekommen war – im Seminar "Psychologie der Homosexualität". Die international an den Universitäten aufstrebenden Gay & Lesbian Studies steckten in Wien noch in den kleinsten Kinderschuhen.

Zwischen Strafrecht und Aidskrise

Andererseits gab es noch immer rechtliche Bestimmungen, die verhindern sollten, dass öffentlich wurde, was für viele noch immer eine Gefährdung der öffentlichen Sittlichkeit darstellte. Nach wir vor galten die 1971 eingeführten Paragrafen 220 und 221, die "Werbung für Unzucht mit Personen desselben Geschlechts" und "Verbindungen zur Begünstigung gleichgeschlechtlicher Unzucht" unter Strafe stellten. Keiner der Beteiligten am Projekt Berg/Löwenherz hatte aber wirklich Bedenken wegen einer möglichen rechtlichen Verfolgung. Vielmehr empfand man die Beschlagnahme der Bücherlieferung bei Löwenherz wegen Verstoßes gegen das Pornografiegesetz als ein letztes Aufbäumen einer alten Ordnung. Das Verfahren wurde schlussendlich eingestellt. Was von Gesetzes wegen nicht öffentlich dargestellt werden sollte, wurde trotz Strafandrohung sichtbar gemacht: Schwules, lesbisches, queeres Leben, Kunst und Kultur bahnten sich positiv und selbstverständlich einen Weg in die breite Öffentlichkeit.  

Queere Literatur – Buchhandlungen weltweit werden rarer, die sich darauf spezialisiert haben.
Foto: REUTERS/Leonhard Foege

Der der Buchhandlung angeschlossene Kulturverein Berggasse organisierte in einem bisher unbekannten Maß mehrmals monatlich Lesungen schwuler Literatur, präsentierte junge Kunstprojekte oder stellte wissenschaftliche Diskurse zur Diskussion. Blättert man heute die Programme durch, ist man betroffen, wie zentral das Thema HIV/Aids war, kaum ein Monat, in dem nicht Veranstaltungen dem Überleben und Sterben an der noch kaum behandelbaren Erkrankung gewidmet waren. Am "Day Without Books" wurden 1995 zum Aids Memorial Day alle Bücher von an Aids verstorbenen Autorinnen und Autoren und Künstlerinnen und Künstlern in braunes Packpapier verpackt ins Regal gestellt – ein erschütterndes Bild des Verlusts an Leben und Kreativität. Doch das ist Vergangenheit, seit mit der Kombinationstherapie ab Mitte der 1990er-Jahre immer bessere Behandlungsmöglichkeiten von HIV-Infektionen zur Verfügung stehen.

Fixer Bestandteil der Community

Heute gehört die Buchhandlung Löwenherz für Viele zu einem fixen Bestandteil der LGBTI*-Community Wiens, international gesehen zählt sie aber inzwischen zu den Dinosauriern der queeren Bücherwelt. In amerikanischen Großstädten sind alle schwulen Buchläden aus dem Stadtbild verschwunden und auch in Deutschland gibt es nur noch in Berlin eine Buchhandlung mit einem umfangreichen LGBTI*-Sortiment. Nachdem auch viele Frauen- und Lesbenbuchläden dem Buchhandelsterben zum Opfer gefallen waren, wie die Frauenbuchhandlung in Wien, baute Löwenherz sein lesbisches Sortiment aus, Trans*-Themen waren von Anbeginn Teil des Programms.

Betritt man heute die Buchhandlung Löwenherz wird man nicht nur von einem inzwischen auf etwa 13.000 Titel angewachsenem Kernsortiment erwartet, das im Laden vorrätig ist. 2018 gehören auch alle möglichen Regenbogen-Artikel, von Fähnchen und Aufklebern fürs Auto, bis zu Pins und Anhängern, zum Programm. Postkarten, einst besonders bei Touristen beliebt, sind hingegen nicht mehr der ultimative Umsatzbringer, dafür gibt es Ebooks inklusive Reader, eine große Auswahl an DVDs und eine umfangreiche Abteilung mit queeren Kinderbüchern – bei der Eröffnung gab es kein Einziges. 1993 waren Regenbogenfamilien noch kein Thema. Vieles hat sich in diesem Vierteljahrhundert positiv geändert. Die strafrechtliche Verfolgung gehört der Vergangenheit an, 2019 kommen die Debatten über gleichgeschlechtliche Partnerschaften mit der durch den Verfassungsgerichtshof erzwungenen Öffnung der Ehe für alle zu einem vorläufigen Ende. In Anbetracht des derzeit herrschenden internationalen Rechtsrucks ist aber ein Backlash, der zu einer zunehmend feindseligen Haltung gegenüber LGBTI*-Personen führen kann, in den Bereich des Möglichen gerückt. (Andreas Brunner, 29.6.2018)

Die Buchhandlung Löwenherz feiert am 30. Juni ab 10.00 Uhr ihren 25. Geburtstag in der Berggasse 8.

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