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Xherdan Shaqiri macht den Adler. Eine Provokation des "Kosovoschweizers" gegen die Serben.

Foto: Laurent Gillieron/Keystone via AP

Marvin Plattenhardt muss raus. Der Verteidiger mit dem deutschesten Familiennamen seit es Aufzeichnungen über Fußball gibt, verlor nach mäßiger Leistung im ersten Gruppenspiel des deutschen Weltmeisters seinen Platz in der Startelf. Nicht besser erging es den Herren Mesut Özil und Sami Khedira.

Es ist aber nicht nur die sportliche Leistung, die bei diesen Spielern zur Disposition steht. Özil und Khedira sind, wie Plattenhardt, in Deutschland geboren und fußballerisch sozialisiert. Özils Wurzeln sind türkisch, Khediras tunesisch. Ihre Millionen verdien(t)en sie in Spanien, Italien und England. Sie sind Stars einer globalisierten Sport- und Unterhaltungsbranche. Ihre Identitäten sind, und das kann eigentlich kaum verwundern, multipel. Millionen Jugendliche in der Türkei, in Deutschland, in Spanien und anderswo folgen ihnen in den sozialen Medien, bewundern sie und eifern ihnen nach.

Als sich Özil und der ebenfalls "türkischdeutsche" Ilkay Gündogan, ein Vorzugsschüler deutscher Integration mit Abitur, Mitte Mai für den Wahlkampf des türkischen Präsidenten Erdogan einspannen ließen, schien nicht nur der Zusammenhalt der deutschen Nationalmannschaft gefährdet, sondern sogar der deutschen Nation als Ganzes. Wie eng hier der symbolische und der realpolitische Wert, den diese beiden Fußballspieler verkörpern, beieinander liegen, zeigt sich daran, dass Özil und Gündogan zum Rapport beim deutschen Bundespräsidenten antreten mussten, um ihre nationale Zugehörigkeit zweifelsfrei öffentlich zu bekräftigen.

Multiple Biografien

Was diese Art der identitätsvergewissernden Symbolpolitik allerdings ausklammert, ist die Frage, wie sich diese Sportler selbst sehen, wie sie mit ihren komplexen, konflikthaften Herkunftsgeschichten jeweils umgehen? Doch das scheint nicht besonders gefragt und die Thematisierung nicht erwünscht zu sein. Es braucht öffentliche Bekenntnisse zu einer einzigen Nation. Jede Differenzierung würde sofort als Verrat gedeutet. Doch gerade in dem, was hier öffentlich ausgespart wird, in der Thematisierung dieser multiplen Biografien und Familiengeschichten, läge eine große Chance zum besseren Verständnis kultureller Differenzen.

Aber das ist nicht der Selbstauftrag des Medienfußballs, denn dieser bezieht einen großen Teil seines Faszinationspotenzials aus der stereotypisierenden Zuschreibungen und Hierarchisierung des Nationalen. Dabei werden das Eigene und das Fremde, das "Wir" und die "Anderen" in gut eingespielten ritualen Rahmungen ausgedeutet und bestätigt. In Fußballspielen werden nationale Identitäten auf der medialen Bühne zur Schau gestellt, gegeneinander in Stellung gebracht, um am Ende des Spiels – nach dem Sieg oder der Niederlage – eine neue Ordnung, eine neue Machtsituation herzustellen. Fußballweltmeisterschaften sind globale Aufwallungen des Nationalismus. Daraus beziehen sie ihr Faszinationspotenzial. Um daran emotional teilzunehmen, bedarf es keinerlei schulischer Vorbildung. Im Gegenteil, rationale Auseinandersetzung ist nicht gefragt. Es reicht die möglichst starke affektive Bindung ans eigene "Wir" und die damit einhergehende Ablehnung der jeweils "Anderen".

Wie das heute in den sogenannten sozialen Netzwerken funktioniert, zeigt das Beispiel des türkischstämmigen schwedischen Verteidigers Jimmy Durmaz, der für das Verschulden des spielentscheidenden Fouls im Spiel gegen Deutschland innerhalb kürzester Zeit mit tausenden Hassmails, rassistischen Beschimpfungen und sogar mit Morddrohungen konfrontiert war.

Ein anderes Beispiel sind die beiden Leistungsträger der Schweizer Nationalmannschaft, Xherdan Shaqiri und Granit Xhaka. Auch hier findet man ein ähnliches Muster. Shaqiris und Xhakas familiäre Wurzeln liegen im Kosovo. Nach dem WM-Spiel der Schweiz gegen die Serben jubelten die beiden "Kosovoschweizer" mit einer hochpolitisch-nationalistisch aufgeladenen Doppeladler-Geste, die auf den Raubvogel im albanischen Wappen verweist. Eine eindeutige Provokation in einem Fußballspiel, ausgetragen in Russland zwischen der Schweiz und Serbien. Dies blieb nicht folgenlos. Die Schweizer Medien kritisierten die Geste der Spieler als unzulässig. Der serbische Trainer entgleiste verbal. Wie stark diese nationalistischen Emotionen sind, zeigt sich daran, dass sogar die serbische Community in Wien während des Schweiz-Serbien-Spiels ausrastete. Die Bilanz: Polizeieinsatz in Wien-Ottakring, beschädigte Fahrzeuge und vier Verhaftungen.

Juno, Drago, Arni

Österreich, das so seine Erfahrungen mit der serbischen Mannschaft gemacht hat, ist ja nicht bei der aktuellen WM in Russland dabei. Unser Team, unter anderem mit einem Zlatko Junuzovic, Alexander Dragovic und dem serbischstämmigen, in England kickenden Wiener Marko Arnautovic, ist in der Qualifikation eben gegen die Serben ausgeschieden.

Um trotzdem der Größe des Vaterlandes zu gedenken, wurde als Ersatz in den heimischen Boulevardmedien eine 40 Jahre zurückliegende Sternstunde des österreichischen Nationalteams gegen Deutschland bei der WM 1978 in Argentinien hervorgekramt. Es wurden altbekannte Gschichtln und Anekdoten von immer gleichen Protagonisten aufgewärmt und mit Kabarettisten-Fußballexperten kulinarisch angereichert.

Die gar nicht so einfach zu beantwortende Frage jedoch, warum ein Fußballspiel, welches 40 Jahre zurückliegt, das sportlich vollkommen unwichtig war, retrospektiv noch immer in der Lage ist, so viele Menschen so stark zu emotionalisieren, und für die österreichische Identitätsbildung noch immer bedeutend ist, wurde weiterhin nicht gestellt – und beantwortet schon gar nicht.

Dass das auch etwas mit dem speziellen Verhältnis der fragilen postnationalsozialistischen österreichischen Nation zur Bundesrepublik Deutschland zu tun haben könnte, scheint im reflexionsfreien Unterhaltungsraum Sport selbst vierzig Jahre danach niemanden zu interessieren. 1978 war es nationalismustechnisch noch relativ übersichtlich. Bei Österreich gegen Deutschland standen sich "ethnisch reine" Mannschaften gegenüber. Die Grenzen waren klar. Die Fans kannten sich aus. Man musste sich noch nicht mit mehrfach gebrochenen Geschichten, personalen und kollektiven Identitäten der Özils, Khediras und Shaqiris herumschlagen, die, wie in der wirklichen Politik, als Störung der nationalistischen Ordnung und nicht als Chancen begriffen werden. (Rudolf Müllner, 25.6.2018)