Darstellung einer aztekischen Opferung im Codex Magliabechiano aus der Mitte des 16. Jahrhunderts. Neue Analysen von Schädeln bestätigen, dass Menschenopfer tatsächlich so vollzogen wurden – aber das Ritual damit längst noch nicht zu Ende war.

So oder so ähnlich geschah es tausende Male: Auf einer Plattform des pyramidenförmigen Templo Mayor ("Großer Tempel") in Tenochtitlan schnitt der Priester den Brustkorb des Opfers auf und entnahm ihm das noch schlagende Herz. Solche Menschenopfer gaben laut der Mythologie der Azteken den Göttern Nahrung und sicherten das Fortbestehen der Welt.

Damit war das Ritual noch lange nicht beendet. Die Leiche wurde an einen anderen Ort gebracht, wo die Priester mit scharfen Messern aus Obsidian den Kopf vom Rumpf trennten. Mit routinierten Schnitten entfernten sie die Haut und die Muskeln, bis nur mehr der nackte Schädel übrig blieb, in den dann seitlich zwei breite Löcher gebohrt wurden. Dann wurde der Schädel neben andere waagrecht auf eine Stange geschoben.

Schädel am Tzompantli

Hunderte solcher Stangen bildeten zusammen einen sogenannten Tzompantli, ein riesiges Gestell, das der Zurschaustellung der Totenschädel diente. Und das konnten ziemlich viele sein: Der spanische Konquistador Bernal Díaz del Castillo schätzte in seiner Chronik der Eroberung Mexikos, dass auf einem einzigen Tzompantli mehr als 100.000 Stück aufgereiht waren.

Darstellung eines Tzompantli (rechts) im Codex Tovar (1587) der Azteken.
Illustration: wikimedia/gemeinfrei

Solche Berichte wurden im 20. Jahrhundert von Historikern immer wieder als übertriebene Gräuelpropaganda kritisiert. Diese hätte den spanischen Eroberern bloß als Vorwand dafür gedient, die Aztekenhauptstadt Tenochtitlan im Jahr 1521 dem Erdboden gleichzumachen und darüber das heutige Mexiko-Stadt zu errichten. Dabei wurde der Templo Mayor zerstört und an seiner Stelle die Kathedrale gebaut.

Totenkopfe bloß aus Stein?

Hat es solche Tzompantlis, die bis heute Bestandteil der Allerseelen-Feierlichkeiten in Mexiko sind, also womöglich gar nicht gegeben? Bestanden sie in Wahrheit nur aus Totenkopfschädeln, die aus Stein gehauen worden waren, wie die bekannten Funde vermuten ließen?

Ausschnitt einer in Stein gemeißelten "Schädelwand" nahe dem Großen Tempel von Tenochtitlan, heute: Mexiko-Stadt. Solche Schädelsammlungen gab es aber auch "in echt".
Foto: Wolfgang Sauber, CC-BY-SA-3.0

Seit 2015 haben mexikanische Archäologen konkrete Hinweise, dass es am Fuße des Templo Mayor sehr wohl einen riesigen Tzompantli gegeben hat. Bei weiteren Grabungen bis zum Juni des Vorjahrs wurden dann die wahren Dimensionen des Grauens offensichtlich: Das Gestell dürfte 36 Meter lang gewesen sein und vermutlich jeweils zwei bis drei Meter hoch und tief. Dazu gab es an den Seiten zwei rund 1,7 Meter hohe Türme mit einem Durchmesser von fünf Metern – voll mit eingemauerten Schädeln:

Rekonstruktion des rund 36 Meter breiten Tzompantli am Fuß des Templo Mayor – eine Art riesiger Altar des Grauens. Die älteren Schädel des Gestell wurden allem Anschein nach immer wieder abgenommen und in den Türmen vermauert.
Illustration: Science/AAAS

Analyse der gefundenen Schädel

Diese Überreste werden seitdem von Archäologen des mexikanischen Instituto Nacional de Antropología e Historia (INAH) analysiert. Und diese Untersuchungen haben zum einen die Bestätigung der Konquistadorenberichte gebracht: So etwa deuten Schnittspuren auf den Knochen darauf hin, dass die Häutung der Köpfe vor dem Aufhängen passierte. Die Analysen förderten aber auch noch einige andere Details ans Tageslicht, wie das Fachblatt "Science" in seiner aktuellen Titelgeschichte und auch in einem anschaulichen Video berichtet:

Science Magazine

Wie das Team um Jorge Gómez Valdés auf Basis von 180 untersuchten Schädeln herausfand, befanden sich unter den Geopferten vor allem Männer zwischen 20 und 35 Jahren. Eher überraschend war, dass rund 20 Prozent der Schädel von Frauen und fünf Prozent von Kindern stammten. Isotopenanalysen zeigten zudem, dass die Opfer aus allen Teilen Mittelamerikas stammten und zu einem erheblichen Teil Kriegsgefangene gewesen sein dürften. Vor der Opferung dürften sie einige Monate in Tenochtitlan verbracht haben, was Berichte bestätigt, dass es eigenen Sklavenmarkt für zu opfernde Menschen gab.

Doppelte Funktion der Opferung

Die Forscher vermuten deshalb, dass die Menschenopfer neben der Botschaft und der Nahrung für die Götter auch eine ganz konkrete politische Funktion gehabt haben: Das Aztekenreich war ein relativ junges Reich, und mit der Abschlachtung von Tausenden Menschen demonstrierte man Macht und sicherte sie ab – vor den Feinden und dem eigenen Volk. (Klaus Taschwer, 26.6.2018)