Als er sich sicher, geborgen und angenommen fühlte, begann er sich zu öffnen. Später lernte er sogar aufzuzeigen, wenn er die Antwort wusste.

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"Frau Narval, ich freue mich, dass Sie gekommen sind", begrüßt mich die Lehrerin meines Sohnes in der vierten Klasse Volksschule. Sie reicht mir die Hand und weist mir einen Sessel zu, auf dem ich langsam Platz nehme. Elternsprechtage gehören nicht zu meinen Lieblingsbeschäftigungen. Denn mein Sohn ist eines jener Kinder, die von der Gesellschaft gern als "schwierig" bezeichnet werden. Als Mutter muss ich mir des Öfteren von gefragten wie auch ungefragten Personen Beschwerden gefallen lassen, die den leichten Unterton nicht überhören lassen: "Erziehen Sie Ihr Kind endlich ordentlich!"

"Er schafft es"

"Lehnen Sie sich ruhig zurück", werde ich von der Lehrerin aufgefordert, "und genießen Sie eine halbe Stunde Lobeshymne auf Ihren Sohn." Sie sei sehr stolz auf meinen Sohn. Er habe sich über die vergangenen Jahre sehr angestrengt, und das Ergebnis lasse sich sehen. In allen Fächern ein Sehr gut, an der Rechtschreibung könnten wir noch arbeiten. Aber das Leben sei eben ein Weg. Was, wenn wir das Ziel schon erreicht hätten, frage ich. Sie lacht. Ich atme erleichtert aus. Sachunterricht sei nicht nur sein Lieblingsfach, sondern neuerdings auch das ihre, denn da könne sie getrost zur Seite treten, während mein Sohn den Unterricht übernehmen würde. Nicht nur, dass er in allen Themengebieten so viel wisse, er könne es auch wunderbar erklären. Er sei nicht nur ein ausnehmend intelligenter Bub, er habe auch den sozialen Umgang gelernt, auf seine Mitschülerinnen und Mitschüler zu hören, Kompromisse zu schließen, konstruktives Feedback zu geben und einzustecken. Er füge sich gut in den Schulalltag ein und sei ein beliebter und von allen geschätzter Freund. Natürlich gebe es immer noch Situationen, in denen man erkennen könne, wie schwer sie ihm fallen, in denen er unruhig auf dem Sessel zu wetzen beginne, mit den Fingern wackle und die Lippen aufeinanderpresse. "Ich muss mich dann immer zusammenreißen, dass ich nicht schmunzle. Er kämpft mit sich, aber ich weiß, er schafft es", sagt die Lehrerin. "Erinnern Sie sich noch, wo wir angefangen haben?"

Überforderung und Unsicherheit

Ja, ich erinnere mich nur zu gut! Im November 2014 erschien ebenfalls hier im STANDARD ein Kommentar der anderen, in dem wir unsere damalige Frustration mit dem öffentlichen Schulsystem zum Ausdruck brachten ("Im Graubereich der Schule"). Mein Sohn hat das Asperger-Syndrom, eine Autismus-Spektrum-Störung, bei der sehr hohe kognitive Intelligenz mit reduzierten Fähigkeiten beim Lesen sozialer Codes einhergeht. Für unseren Sohn war es schwierig, in einer Klassengemeinschaft von 25 Kindern im Einklang Aktivitäten auszuführen. Bevor er wahrnahm, was der Lehrer von ihm forderte, suchte er nach einem geordneten Platz in diesem Gewirr aus akustischen und visuellen Reizen. In seiner Unsicherheit reagierte er anders als "vorgesehen". Für die damalige Schule war seine Anwesenheit eine Überforderung. Immer öfter erhielt ich bereits um zehn Uhr vormittags einen Anruf, ich möge doch meinen Sohn, der nur noch randaliere und den Unterreicht störe, abholen.

Den Teufelskreis durchbrechen

Um den Teufelskreis von Aktion und Reaktion zu durchbrechen, nahm ich kurzerhand meinen Sohn aus der Schule. Was nun? Ist er tatsächlich "unbeschulbar"? In ständigem Kontakt mit der zuständigen Abteilung im Stadtschulrat suchten wir nach einem neuen Platz in einer anderen Schule. Als wir endlich ein Angebot bekamen, besuchte ich mit gemischten Gefühlen und keinem echten Interesse die zugewiesene Klasse mit meinem Sohn. Die Lehrerin empfing uns freundlich. Sie ging auf meinen Sohn zu, sah ihn an, reichte ihm die Hand und sagte: "Willkommen in der 1a! Alle Kinder und ich freuen uns auf dich!" Verunsichert durch seine ersten Schulerfahrungen ließ mein Sohn schüchtern seinen Blick durch den Raum gleiten. Nach kurzer Beobachtung, wie die Lehrerin in der Klasse agierte, wie aufmerksam sie war, wie sie jedes einzelne Kind anstrahlte und jede Wortmeldung ernst nahm, wusste ich, dass wir angekommen waren.

Anfangs beteiligte sich mein Sohn nicht an den Klassenaktivitäten. Turnstunden waren für ihn chaotisch und Gruppenspiele schwierig zu durchschauen. In den Pausen wusste er nicht, wie auf die anderen Kinder zugehen. Die Lehrerin machte ihm keinen Druck. Sie blieb freundlich, klar und bestimmt. Sie beobachtete ihn und initiierte Arbeiten in kleineren Gruppen, in denen mein Sohn nicht sozial überfordert war. Das erste Schuljahr neigte sich dem Ende zu. Wie sollte sie seine schulischen Leistungen beurteilen, wenn er sich nicht beteiligte? Der Umstieg auf den Lehrplan der allgemeinen Sonderschulen stand im Raum. Ich bin keine "Akademiker-Mami", die meint, ihre Kinder müssen alle unbedingt die Universität besuchen, auch wenn ihre Begabungen in eine ganz andere Richtung weisen. Gleichzeitig bin ich auch nicht gewillt, auf Kosten meines Sohnes das immer noch vorherrschende Schubladendenken zu unterstützen, das einem Kind mit erhöhtem Förderbedarf automatisch die akademische Intelligenz abspricht. Die meisten Eltern kennen ihre Kinder und können ihre Fähigkeiten richtig einschätzen. Gemeinsam mit der Lehrerin kämpfte ich dafür, ihm noch mehr Zeit zu geben. Zurück können wir immer noch, nach vorne ist es schwieriger.

Eine Beziehung aufbauen

"Das habe ich gelernt: Die Zeit spielt für die Kinder", sagt mir heute seine Lehrerin, "und diese Erfahrung möchte ich allen jungen Lehrern und Lehrerinnen weitergeben." Was zählt, ist die Beziehung, die wir mit unseren Kindern aufbauen. Jedes Kind spürt sehr genau die Intention seines Gegenübers. Es spürt, ob es angenommen ist. Es spürt, ob ihm etwas zugetraut wird. Und danach wird es sich verhalten. Das Kind ist der Spiegel deiner Intention, deiner Beziehung zu ihm. Die Britin Andria Zafirakou, die dieses Jahr in Dubai zur weltbesten Lehrerin gekürt wurde, verfolgt den gleichen Ansatz: "Beziehungsaufbau ist alles", wird sie im "Guardian" zitiert. "Baue eine Verbindung auf zu den Kindern, finde heraus, was sie interessiert. Baue eine echte Beziehung auf, baue gegenseitiges Vertrauen auf. Und dann kann alles andere passieren!"

Bei meinem Sohn passierte es! Sobald er sich in der Klasse sicher, geborgen und angenommen fühlte, begann er sich zu öffnen. Plötzlich nahm er den Stift und begann zu schreiben. Später lernte er sogar aufzuzeigen, wenn er die Antwort wusste. Heute steht er eloquent vor der Klasse und hält selbstsicher seine Referate. Für die Schülerzeitung schrieb er: "Das Schönste an meiner Volksschulzeit war, dass ich so viel Neues gelernt habe. Am liebsten mag ich meine Lehrerin und meine Freunde. Ich hoffe, dass es im Gymnasium genauso schön wird!"

Herausforderung angenommen!

Die 4a hatte die Herausforderung erfolgreich angenommen und nicht nur meinem Sohn, sondern allen Klassenkameradinnen und -kameraden einen neuen Blickwinkel ermöglicht. Sein Anderssein sowie das Anderssein anderer Kinder in der Klasse – sei es aus angeborenen Konstitutionen ähnlich der meines Sohnes, sei es aus Gründen der Herkunft oder anderer Erlebnisse – hatten einen besonderen Prozess des Miteinanders ausgelöst. Die Vielfalt ermöglicht es den Kindern, auch verschiedene Rollen einzunehmen. Einmal helfen sie einem anderen Kind, einmal wird ihnen selbst geholfen. Einmal wissen sie etwas, einmal hören sie einem anderen zu. So haben alle Lesen, Schreiben und Rechnen gelernt – und mehr! Diese Talente werden sie später brauchen und unser Land dadurch weiterbringen.

Ich bedanke mich bei dieser Lehrerin für ihr Engagement und hoffe, dass sie andere inspirieren kann, Gleiches zu tun. Unsere Politik täte gut daran, diese Lehrer und Lehrerinnen adäquat zu unterstützen. Ihnen legen wir die nächste Generation in die Hände. Wir müssen bereits in der Ausbildung ansetzen, damit sie bestmöglich für die Herausforderungen unserer Zeit gewappnet sind. Wir müssen durchaus ihre Arbeitsstunden erhöhen sowie sie ihrer Arbeitsleistung angemessen entlohnen. Und wir müssen ihr Ansehen stärken, denn sie leisten Großartiges! (Christina Narval, 26.6.2018)