Igor und Oleg ...

Foto: Ballin André

... auf der Fanmeile.

Foto: Ballin André

Irina hat genug gesehen. Zehn Minuten vor Schluss flüchtet sie mit ihren beiden Kindern an der Hand aus der Fanmeile am Wolga-Ufer in Kasan. Die kleinen Russlandfähnchen sind schon eingerollt, die Enttäuschung steht allen dreien ins Gesicht geschrieben. "Unsere Jungs liegen mit 0:2 hinten", begründet sie den vorzeitigen Abgang.

Dutzende Kolumbianer sitzen auf der Fanmeile. Die Südamerikaner haben am Vortag in der Stadt Polen mit einem 3:0 aus dem Turnier geschossen und die Fans feiern diesen Sieg immer noch. Mehr als 30 Grad Hitze machen ihnen auch in der betonierten Fan-Zone überhaupt nichts aus. "Kasan good", lobt einer von ihnen und hebt den Daumen. Den Kolumbianern kann es gar nicht heiß genug sein.

Stimmung trübe

Bei den Russen ist die Stimmung hingegen trübe. Igor und Oleg jedoch halten auf der Fanmeile bis zum Ende durch. Eigentlich sind die beiden zum Spiel Deutschland gegen Südkorea, das am Mittwoch steigt, nach Kasan gereist. Doch ihre Sympathie gehört natürlich in erster Linie der eigenen Mannschaft. Ihre roten T-Shirts zieren der Doppeladler und der Schriftzug "Rossija", ihre Köpfe eine gehörnte Kappenmütze in den Farben weiß-rot-blau.

"Das erste Tor haben sich unsere selbst hereingelegt, beim zweiten hatten die Uruguayer Glück, als der Abpraller reingeht, zudem spielen wir ja die ganze Zeit in Unterzahl", analysiert Oleg das Spiel auch nach mehreren Bier noch recht sachlich. Doch als in der Nachspielzeit das 3:0 für Uruguay fällt, schimpft Igor laut: "Diese Krummbeinigen bekommen nichts auf die Reihe."

Dabei hat die Sbornaja eigentlich viel mehr erreicht, als Experten, aber auch Anhänger erwartet haben. Mit zwei haushohen Siegen hatte sie sich bereits vor dem abschließenden Gruppenspiel gegen Uruguay für das Achtelfinale qualifiziert. Das erste Mal in der Geschichte des postsowjetischen Russlands. Die Euphorie nach dem Spiel gegen Ägypten war riesig, nun sind die Fans der Sbornaja unsanft wieder auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt worden. Beim Schlusspfiff drängen die Massen nach draußen. Der Aufruf des Moderators, Patriotismus zu demonstrieren und gemeinsam laut "Rossija" zu schreien, findet nur ein schwaches Echo. Die Enttäuschung unmittelbar nach dem Spiel sitzt tief.

"Ob Portugal oder Spanien ist eigentlich egal, gegen beide haben wir wohl keine Chance", meint Oleg. Doch dann hellt sich seine Miene auf. Wenn es tatsächlich rausgehe, werde er eben für Deutschland fiebern, sagte er mit einem Augenzwinkern.

"Krone zurecht gerückt"

Doch mit dem Ausscheiden abfinden wollen sich die Russen auch nach dem Dämpfer nicht: Der ehemalige Stürmer Waleri Massalitin bezeichnete das Spiel der Russen zwar als schlecht, doch "die Uruguayer haben unsere Krone zurecht gerückt. Diese Niederlage kann uns noch zugute kommen", hofft er. Auch sein Stürmerkollege Sergej Kirjakow, von 1992 bis 1998 beim Karlsruher SC aktiv, warnte davor "von einem Extrem ins andere zu verfallen". Die Mannschaft habe die Mindestanforderung erfüllt und die Gruppenphase überstanden. "Unsere reale Stärke werden wir im nächsten Match sehen, wenn es ins Ausscheidungsspiel geht", meinte er.

Kirjakows Wunsch nach Portugal ging nicht in Erfüllung, nachdem in den beiden Abendspielen der Ausgleich für den Iran respektive Spanien in den Schlusssekunden fiel. Doch Nationaltrainer Stanislaw Tschertschessow hat zumindest einen Trost in der eigenen Niederlage gefunden. Als Gruppenzweiter gegen Spanien müssen die Russen im Moskauer Luschniki Stadion antreten. "Das ist wohl das einzige Plus. Luschniki ist mein Stadion", sagte Tschertschessow. In das inzwischen zu einem reinen Fußballtempel umgebaute einstige Olympiastadion dürfen 78.000 Fans. Bis Sonntag ist die Niederlage bei den Russen verdaut und die 78.000 werden ihre Sbornaja euphorisch nach vorne peitschen. (André Ballin aus Kasan, 26.6.2018)