Der Große Türkische Nationalversammlung: Mit dem Wechsel zum Präsidialsystem ist sie von 550 auf 600 Abgeordnete vergrößert worden. Die Regierung aber wird künftig vom Präsidenten selbst geführt und braucht keine Bestätigung mehr durch das Parlament. Anfragen an Minister sind nur noch schriftlich möglich.

AFP / Adem Altan

Bild nicht mehr verfügbar.

Erdoğans Mehrheitsbeschaffer: Devlet Bahçeli, der Chef der rechtsgerichteten Nationalistenpartei MHP, und sein "Wolfsgruß".

Reuters / Stoyan Nenov

Ankara – 50 Sessel mehr müssen die Arbeiter im Plenum des türkischen Parlaments aufstellen. Dafür braucht es die Regierungsbank nicht mehr. Im neuen Präsidialsystem von Staatschef Tayyip Erdoğan sind die Parlamentarier ganz unter sich.

600 Abgeordnete werden bei der konstituierenden Sitzung der Großen Türkischen Nationalversammlung (TBMM) vereidigt. Die Zeremonie ist nun für den 8. Juli angesetzt. Der wiedergewählte Staatspräsident Erdoğan wird dann ebenfalls ins Parlament kommen und seinen Amtseid ablegen. Drei Tage zuvor, am 5. Juli, will die oberste Wahlbehörde das amtliche Ergebnis der Präsidenten- und Parlamentswahlen verkünden.

Mehrheitsbeschaffer Bahçeli

Der Alterspräsident, der die erste Parlamentssitzung eröffnet und leitet, müsste eigentlich der 79 Jahre alte Deniz Baykal sein. Der ehemalige Parteichef und Vizepremier der oppositionellen CHP ist jedoch nach mehreren Notoperationen im Herbst gesundheitlich schwach. Baykal ließ sich dennoch für eine weitere Legislaturperiode ins Parlament wählen. Ist er nicht in der Lage, die Parlamentssitzung zu führen, fällt die Aufgabe des Alterspräsidenten an den zweitältesten Abgeordneten, den 70-jährigen Vorsitzenden der rechtsgerichteten Nationalistenpartei MHP, Devlet Bahçeli. Er ist Erdoğans Mehrheitsbeschaffer im Parlament.

49 Abgeordnete stellt die MHP im neuen Parlament, sechs fehlen Erdoğans AKP nur zur absoluten Mehrheit von 301 Abgeordneten. Mit der MHP hat der Präsident eine komfortable Mehrheit von 344 Parlamentariern. Sie können Erdoğans Dekrete und seinen Staatshaushalt billigen und auch selbst Gesetze einbringen und annehmen.

Das MHP-Wunder

Der Wahlerfolg der MHP hat die allermeisten im Land überrascht. Die größte Oppositionspartei CHP und erst recht nicht die neue rechtsnationale Iyi Parti ("Gute Partei") hatten keinesfalls damit gerechnet, dass die MHP ihr früheres Ergebnis von elf Prozent halten könnte. Ein großer Teil der MHP-Wähler, so war die allseits vertretene Ansicht von Wahlexperten und politischen Kommentatoren, missbillige die Allianz von Parteichef Bahçeli mit Erdoğan und würde zur Guten Partei der Ex-MHP-Politikerin Meral Akşener überlaufen.

Zum Teil ist das wohl auch geschehen, doch von der AKP enttäuschte Wähler gingen dafür zur MHP und glichen den Verlust wieder aus. Das würde auch das deutliche Minus von sieben Prozentpunkten bei Erdoğans konservativ-islamischer AKP erklären. 49,50 Prozent hatte sie bei der Parlamentswahl im November 2015 erhalten, 42,56 Prozent und 295 Sitze waren es jetzt.

Nationalisten-Hochburgen

Die MHP ist relativ stark in Zentralanatolien, vor allem in den drei aneinanderhängenden Provinzen Kirikkale, Yozgat und Kayseri mit 21 bis 25 Prozent. Hochburgen hat sie auch entlang der Schwarzmeer- und der Mittelmeerküste. Bahçeli selbst stellt sich immer in der Provinz Osmaniye im Süden zwischen Adana und Gaziantep zur Wahl; dort erhielt die MHP dieses Mal 31 Prozent.

Gleich drei Viertel der Abgeordneten in der MHP-Fraktion sind neu – eine Folge der Abspaltung der Akşener-Gruppe. Unter den Debütanten der rechtsgerichteten MHP ist auch Esin Kara, eine Abgeordnete aus der zentralanatolischen Stadt und Provinz Konya. Sie erklärte bereits ihren Wunsch nach Wiedereinführung der Todesstrafe. Das ist ein altes Vorhaben von Parteichef Bahçeli, das nun Chancen auf Verwirklichung hat.

Ministerproblem der AKP

Für die AKP hatte Erdoğan einen Großteil seiner Minister als Kandidaten in die Parlamentswahl geschickt. Damit wollte er sicherstellen, dass seine Wähler auch die Parlamentswahl ernst nehmen und der AKP eine Mehrheit verschaffen. Als Folge haben nun der Erdoğan-Schwiegersohn und noch amtierende Energieminister Berat Albayrak und Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu ein Abgeordnetenmandat.

Auch Vizepremier Numan Kurtulmuş, Innenminister Süleyman Soylu, Verteidigungsminister Nurettin Canikli, Familienministerin Fatma Betül Sayan Kaya, Justizminister Abdulhamit Gül und Sozialministerin Jülide Sarieroğlu sitzen nun im Parlament. Ob sie damit zufrieden sind, ist fraglich. Zurück in die Regierung könnten diese AKP-Spitzenpolitiker nur, wenn sie ihr Abgeordnetenmandat zurückgeben – und selbstverständlich sofern Erdoğan es wünscht. Eine Nachwahl wäre dann aber erforderlich.

Gerupfte CHP

Bei der kemalistisch-sozialdemokratischen CHP (Republikanische Volkspartei) ist die Enttäuschung über die neuerlich verlorene Wahl groß. Während ihr Präsidentschaftskandidat über das Stammwählerlager hinaus zugelegt hatte, büßte die Oppositionspartei selbst noch Stimmen ein. Sie kam dieses Mal auf 22,64 Prozent; bei der Wahl im November 2015 waren es 25,32 Prozent.

Die CHP verlor Stimmen an die neue Iyi Parti, manche ihrer Wähler entschieden aber auch taktisch und gaben ihre Stimme der prokurdischen Minderheitenpartei HDP. Damit schaffte die HDP erneut den Sprung über die Zehnprozenthürde und verhinderte eine noch sehr viel größere Mehrheit für Erdoğans AKP.

Bunte Opposition

So betrachtet könnte die CHP aber nun mit ihren 146 Abgeordneten auch die organisierende Kraft einer neuen, recht bunten Opposition zum Präsidialregime Erdoğans werden. Die mit der CHP gemeinsam angetretene Iyi-Partei erhielt 43 Abgeordnete, die HDP stellt die drittgrößte Parlamentariergruppe mit 67 Abgeordneten.

Die islamistische Saadet-Partei (Partei der Glückseligkeit), die selbst kein Mandat errang, wird gleichwohl drei Abgeordnete aus dem Kontingent der CHP ins Parlament schicken: Emre Bağce, den Medizinprofessor Cihangir İslam (beide in Istanbul gewählt) und Abdulkadir Karaduman (Konya). Der zweite Parlamentarier, der aus der konservativ-religiösen Hochburg Konya in Zentralanatolien für die säkulare CHP ein Mandat erhielt, ist Abdullatif Şener, ein ehemaliger stellvertretender Regierungschef, Mitbegründer der AKP und seit vielen Jahren vehementer Erdoğan-Kritiker.

Professorenparlament

Neu für die CHP ziehen auch der Verfassungsexperte und Jusprofessor İbrahim Kaboğlu sowie der ehemalige Botschafter Ünal Çeviköz ins Parlament ein. Kaboğlu war als Kritiker des Präsidialsystems aufgetreten und hatte daraufhin seinen Posten an der Istanbuler Marmara-Universität verloren, ebenso wie der Politikprofessor Erol Katırcıoğlu, der auf einem Ticket der HDP gewählt wurde. Unter den neuen HDP-Abgeordneten ist auch der Aufdeckerjournalist Ahmet Şik. Er ist im "Cumhuriyet"-Prozess in erster Instanz bereits zu sieben Jahren und sechs Monaten Gefängnis verurteilt worden.

Mit nur 53 Frauen ist die AKP die Fraktion mit dem kleinsten Anteil weiblicher Abgeordneter; die HDP hat mit mehr als einem Drittel Frauen den größten Anteil – 26 von 67 Abgeordneten. Zwei Abgeordnete werden bei der konstituierenden Sitzung wohl auf jeden Fall fehlen: Die CHP hatte ihren im Gefängnis sitzenden Abgeordneten Enis Berberoğlu nochmals aufgestellt und wählen lassen. Auch die HDP-Abgeordnete Leyla Güven ist in Haft. (Markus Bernath, 26.6.2018)