Martin Prinz am Beginn seiner Interrail-Reise im Jahr 1990 in St. Pölten ...

Foto: Martin Prinz

... und 2018 beim Umsteigen in Straßburg.

Foto: Martin Prinz

1990 geht's mit Umsteigen, aber in einem Schwung von Österreich nach London. 2018 kommt Martin Prinz vorerst nur bis Kilstett bei Straßburg.

Illustration: Magdalena Rawicka

Das Rathaus in Kilstett bei Straßburg

Foto: wikicommons/Lal.sacienne

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Der Hafen von Dover. Bei Schönwetter sieht man bis nach Frankreich.

Foto: AP Photo/Matt Dunham

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Baukräne in der Nähe des Dubliner Hafens

Foto: REUTERS/Clodagh Kilcoyne

In einem Zug von St. Pölten nach Paris. Vom Gare de l'Est zum Gare du Nord, ein kurzer Fußweg, dann Calais, die Fähre, die weißen Klippen von Dover, England und alle dazu auftauchenden popkulturellen Puzzlesteine, London. Wir waren sechzehn, fast siebzehn. Nach St. Pölten hatten uns noch die Eltern gebracht. Bis auf ein, zwei Telefonate würden sie für die kommenden vier Wochen nichts von uns hören. Ich erinnere mich noch an die kleinen, dicken Pound-Münzen in meiner Hand, die in einer Telefonzelle neben dem Hyde Park im Apparat verschwanden, obwohl den Eltern außer dem Es-geht-uns-gut ohnedies nichts erzählt werden sollte.

Diesmal schaffte ich es lediglich bis Kilstett. Der Himmel gewitterblau, mein Rollkoffer schwarz, vierrädrig fuhr er vor mir her, die paar hundert Meter von der kleinen Bahnstation zum Dorfhotel. Einfamilienhäuser und tiefgrüne Rasenflächen unter dem tintigen Abendhimmel. Ich hatte von Kilstett noch nie gehört. Ein Hotelangebot auf der digitalen Buchungsplattform war der einzige Grund gewesen. Kaum 15 Kilometer von Straßburg entfernt, noch dazu mit eigener Zugverbindung. Zumindest nach Paris hatte ich es schaffen wollen, wenn schon nicht in einem Zug bis nach Irland.

Katzensprung

Doch es war Kilstett geworden, ein elsässisches Abendessen und eine behagliche Gewitternacht im Provinzhotel, am nächsten Vormittag stand ich allein an der kleinen Bahnstation, wollte zumindest bis Chester. England war ein Katzensprung, seitdem es den Tunnel und Eurostar gab. Dass so wenige Plätze für Reservierungen per Interrail-Ticket zur Verfügung standen, machte mir jedoch schnell einen Strich durch die Rechnung.

Ein Dreivierteljahr vor der ersten Interrail-Reise war der Eiserne Vorhang gefallen, löste sich der Ostblock und bald darauf auch die Sowjetunion auf. In der Schule hatten wir gerade erst den Oberstufenatlas erhalten, doch all die Sätze, dass die Landkarten auf einmal nicht mehr gälten, hätten gar nicht unwirklicher sein können. Ob wir deshalb den offenen Grenzen auf diesen ersten Reisen des Erwachsenwerdens ausgewichen waren? Spätestens 1991, vermutlich schon 1990, hatte das Interrail-Ticket auch für diese Teile Europas gegolten. Uns aber zog es nach Paris, London, Dublin, nach Westport, an die Westküste Irlands, in die Bretagne nach Roscoff oder St. Malo, lediglich Berlin bildete eine Ausnahme.

Sexualleben

Obwohl ich London diesmal ausließ, erreichte ich Chester erst zwei Tage später. Die Bahnbediensteten Frankreichs hatten gestreikt, die einzige Verbindung nach Calais gab es abends. Ich übernachtete in einem Motel am Stadtrand, das sauber war und mich an Verbrechen denken ließ. Durch die Wände das Sexualleben aus dem Zimmer daneben. Gut hörte sich das nicht an, doch Geräusche können täuschen.

In Chester trank ich zu früh ein Bier zu viel. Mit 17 wäre das nichts gewesen. Mit 44 und auf leeren Magen war der Abend so gut wie verloren. Am Morgen ein Lauf über die Stadtmauern und englischer Tee, spätestens im Zug war die Schwere im Kopf vertrieben. Unerwartet schroff zogen die Berge des Snowdonia-Nationalpark an der einen Zugseite vorbei, leere Sandstrände und blaues Meer an der anderen. In Holyhead hatten wir am Ferry-Terminal nachts stets mit Bier und kratzigen Augen auf das Boarding gewartet, diesmal schob ich meinen Rollkoffer über die Fußgängerbrücke in den Ort hinüber und besichtigte die inmitten der Überreste des alten römischen Forts errichtete St. Cybi's Church.

Mädels

Drei, vier Bier waren auf der Fähre meist noch dazu gekommen. Entsprechend schlimm danach die Fahrt an die Westküste. Nach der Ankunft in Dun Laoghaire mit der ersten Schnellbahn nach Dublin, mit einer der wenigen irischen Zugverbindungen in das damals von Touristenmassen noch einigermaßen unbehelligte Galway. Von Müdigkeit und Kater in die Stockbetten einer Jugendherberge geworfen, wussten wir beim Aufwachen nach einem solcherart verschlafenen Nachmittag wenig wie selten von der Welt.

Im Unterschied zu meinem Reisekumpan aber fielen mir die beiden Mädels aus Vorarlberg auf, die sich immer wieder kichernd nach uns umdrehten, nachdem sie uns bereits in der Jugendherberge nach Pubs gefragt hatten. Bald saßen wir mit den beiden an einem Pub-Tisch, tranken Bier. Schnell wurde klar, dass eine der beiden, die mit ihren blauen Augen und dunklen Haaren noch dazu besonders schön war, ihren Blick kaum von ihm lassen konnte. Doch er war zu müde, wollte sich verabschieden. Mit Müh und Not überredete ich ihn vor den Last Orders zu einem letzten Bier. Als sie in der Jugendherberge noch mit uns auf den Stiegen sitzen wollten, blieb er nur mehr kurz. Das Angebot auf einen Spaziergang lehnte er ab. Es wäre sein erster Kuss gewesen. Meine Versuche, ihn zum Bleiben zu bringen, ärgerten ihn nur. Erst am nächsten Tag ärgerte er sich über sich selbst. Da war es zu spät.

Rollkoffer

Galway ließ ich aus. Ich fuhr auch nicht nach Dingle oder Westport, wo wir einmal nach einem Pub-Abend voller Musik und Mitsingen neben dem Bahnhof übernachtet hatten. Ich fuhr in den Südosten nach Wexford. Wie es sich für einen Rollkoffer-Fahrer gehört, hatte ich mir dort ein Bed-and-Breakfast reserviert. Davor eine Nacht in Dublin, eine abendliche Erkundung der früher so vertrauten Stadt, mehr ging sich diesmal nicht aus.

Berückend der Anblick der Arbeitersiedlungsbauten, vor denen bereits vor fast dreißig Jahren in den einschlägigen Interrail-Führern gewarnt worden war, ohne dass ich dort je einen Verdachtsfunken von Gefährlichkeit gehabt hätte. So sehr sich die Stadt in den Jahren des Booms und des Zerplatzens der Blase verändert hatte, so viele gläserne Bürogebäude in Richtung Hafen hinzugekommen und so viele Geschäfte in der Innenstadt aufgelassen und zu blinden Fronten geworden waren, an den Sozialbauten war die Zeit, als hätte sie einen Bogen geschlagen, erst gar nicht angekommen.

Schnurgerade

Wexford hatte ich mir aufgrund der Überfahrt in die Bretagne ausgesucht. 17 Stunden über das Meer bis Roscoff, so wollte ich das. Die einzige Verbindung dorthin gab es aus dem nahegelegenen Rosslare. Erst nach längerem Suchen war ich darauf gestoßen. Ich hatte für Roscoff meine Gründe, hier sind sie nicht weiter von Belang und verloren bald nach dem Ablegen an Bedeutung.

So viel näher war mir gerückt, wie ich während der letzten Überfahrt am Heck der Fähre gesessen war, die vom großen Schiff zurückgelassene Gischtlinie in den Augen, und auf die einzige Richtungsänderung der ganzen Strecke gewartet hatte: ein kleiner Knick, stumpfer Winkel. Die Gischtgerade verschob sich, als biege sie weg, nicht das Schiff. Dann lag der weiße Linienknick im Meer und das Schiff zog schnurgerade von ihm weg.

Ahnung

Ich suchte diesmal nach keiner Wiederholung, hatte mir keine Seekarte angesehen. Ich saß Steuerbord auf einer Bank, die Nachmittagssonne über dem ruhigen, silbrigen Meer. Ein älterer Franzose begann neben mir aus einem Tupperware-Behältnis zu essen, eine offene Flasche Weißwein in seiner Ledertasche. Das Grüßen und die schon durch bloßes Nicken ausgesprochene Frage-Antwort-Kombination nach einem freien Platz reichte angesichts des Meeres und der Sonne darüber als Gespräch. Er schaute, ich schaute. An weniger als an sein Leben konnte man dabei nicht denken. Es war sein Meer und mein Meer. Als die Ahnung einer Reise. (Martin Prinz, RONDO, 28.6.2018)