Eines Tages gab es weder eine Welt zu errichten noch einen zünftigen Krieg zu entfesseln, und dem Schöpfer war langweilig. Er tat, was die meisten Schöpfer in solchen Fällen tun: Er betrank sich. Irgendwann in jener Nacht erfand er Interrail.

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Thomas Glavinic (geboren 1972) lebt und arbeitet in Wien und Rom. Zuletzt ist von ihm der Roman Gebrauchsanweisung zur Selbstverteidigung, Verlag Piper, München 2017, erschienen.

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Sein unbekannter Schöpfer betrachtet den Menschen als eine Art Tanzbären oder Fernseher. Er hat ihn mit einem porösen Einwegkörper ausgestattet und ihm zur Unterhaltung jede Menge natürliche Feinde beigegeben, vom Moskito über den Schnaps und den Werwolf bis hin zu einem anderen Geschlecht. Er hat den Tod erfunden, wozu er nicht gezwungen gewesen wäre, und unter dem Einfluss verstörender Fantasien, die seinen Geist heimsuchten, verfiel er auf eine besonders bösartige Idee, wie er aus einem Menschenleben eine Orgie der Wünsche, des Glücks, der Verletzungen und der Irrationalität machen konnte: Sex.

Das hätte eigentlich schon gereicht, aber damit sich die Sache bestimmt auszahlt und ihm das Weltgeschehen an seinen freien Tagen zumindest für ein paar Jahrtausende verlässlich Erbauung schenkt, hat er am Ende dem Menschen auch noch den Verstand zugestellt, damit der das ganze Schlamassel würdigen kann – jeder Schöpfer braucht Applaus, selbst wenn sich das Klatschen nach Buhrufen anhören will.

Betrunkener Schöpfer

Eines Tages gab es weder eine Welt zu errichten noch einen zünftigen Krieg zu entfesseln, und dem Schöpfer war langweilig. Er tat, was die meisten Schöpfer in solchen Fällen tun: Er betrank sich. Irgendwann in jener Nacht erfand er Interrail.

Jahrzehnte später schwärmen wir von diesen sechs oder acht Wochen im Sommer, woran man erkennt, dass der Schöpfer nicht durch und durch böse ist, sonst hätte er uns nicht die Gnade der selektiven Erinnerung gewährt. Was für interessante Menschen wir kennengelernt hätten, meinen wir, und wie wild es gewesen sei. In Cadiz gab es diese Spelunke und in Rotterdam den einäugigen Türsteher, in Mailand den perversen Vermieter, in Hamburg die Amerikanerin, in Pisa die Mormonen und in Linz den arbeitslosen Millionär. An allen Ecken lauerte der Existenzialismus, und im Morgengrauen roch jede neue Landschaft nach Abenteuer.

Es könnte ein Wunder passieren

Zum Wesen des Abenteuers gehört der Nervenkitzel. Soll mir aber einer sagen, es gäbe irgendeinen Nervenkitzel, der nicht ab einem gewissen Punkt unangenehm würde. Das Abenteuer ist eben nicht schön, sonst wäre es kein Abenteuer. Insofern war Interrail ein Abenteuer.

Wir warteten auf etwas Großes. Der nächste Tag konnte gar nicht früh genug kommen. Wir schliefen irgendwo oder gar nicht, aßen nichts oder irgendwas und rauchten. Wir lagen in Parks, in Köln und in Amsterdam, in Paris und in Brüssel, ohne große Motivation, weil wir keine Touristen waren, sondern Menschen, die sich einfach hinsetzen und schauen wollten. Ich jedenfalls wollte nie etwas anderes. Ich will irgendwo sitzen und jenen Ausschnitt der Welt studierend betrachten, den der Zufall oder der Schöpfer für mich an dieser Stelle bereithält. Es könnte ein Wunder passieren, und das will ich nicht verpassen.

Glücklich tun

Die Wartezeit auf ein Wunder vertrieben wir uns mit dem ersten Joint unseres Lebens. Was insofern auf den ersten Blick unlogisch ist, als wir uns ja schon zuhause mit allem Möglichen zudröhnten, um eine Weile von der Wirklichkeit in Ruhe gelassen zu werden. Dann packten wir unsere Sachen, fuhren ein paar Wochen lang mit dem Zug durch Europa und taten so, als seien wir glücklich.

Wenn man so tut, als sei man glücklich, will man es erst recht sein, also entfernten wir uns wieder von der Welt, der eine mit berauschenden Substanzen, der andere mit Musik, der nächste mit einem Buch, egal ob wir in Amsterdam waren oder in Barcelona. Woraus wir hätten lernen können, dass diese Welt nirgends gut genug ist, niemals gut genug sein wird. Jeder von uns jätet seinen Schrebergarten, der aussieht wie der des Nachbarn, für keinen gibt es viel zu gewinnen.

Aber manchmal taucht da in uns so ein Gefühl auf. Eine Hoffnung, ein Zauber. Es könnte im Leben vielleicht doch um etwas gehen. Um Sinn, um Wert, um einen großen Preis, etwas, das uns erhöht. Und wer weiß? Vielleicht hat der Schöpfer ja noch eine Überraschung für uns. (Thomas Glavinic, RONDO, 13.9.2018)