Fritz Kalkbrenner weist beim Techno auf die wütenden Ursprünge des Genres hin.

Die Kalkbrenner-Brüder haben den Berliner Minimal-Techno-Sound auf die großen Bühnen gebracht.

Er kennt die kleinen, verruchten Clubs genauso wie die großen Festivalbühnen: Fritz Kalkbrenner, gebürtiger Ostberliner, ist einer der erfolgreichsten DJs Deutschlands. Der Spielfilm "Berlin Calling" über die Berliner Technoszene machte ihn und seinen Bruder Paul vor zehn Jahren überregional bekannt. Gemeinsam produzierte man einen Soundtrack, der Berliner Techno verträglich fürs Küchenradio machte und dennoch nicht am Marktgeschrei à la David Guetta anstreifte. Zu Kalkbrenner-Liedern kann man tanzen, arbeiten, wenn man will auch schlafen. Paul tritt als DJ heute vor riesigen Menschenmassen auf. Fritz legt es etwas subtiler an. Sein Markenzeichen: der eigene Gesang. Auf seinem neuen Album "Drown" verzichtet er erstmals darauf.

STANDARD: War der Film "Berlin Calling" im Nachhinein betrachtet ein riesiger Marketingcoup?

Kalkbrenner: Der Film hat sicherlich nicht geschadet, aber Marketingcoup klingt so, als ob das geplant gewesen wäre. Das war es ja nicht. Vieles hat sich erst während der Dreharbeiten ergeben. Dass wir den Soundtrack produzieren, war zum Beispiel nicht vorgesehen. Für unsere Karriere hat der Film als Akkumulator fungiert, wir hatten aber schon vorher Musik gemacht. Der Erfolg kam stückweise, peu à peu. Wenn man von heute auf morgen ins kalte Wasser geworfen worden wäre, hätte man daran verzweifeln können.

Berlin Calling - Trailer

STANDARD: Der DJ Avicii – er wird der chartfixierten Electronic Dance Music (EDM) zugeordnet – ist kürzlich mit nur 27 gestorben. Es heißt, er sei an dem Starrummel zerbrochen.

Kalkbrenner: Avicii ist mir persönlich nie über den Weg gelaufen. Aber es stimmt schon, dass das schwierig sein kann. Als bei mir der große Erfolg kam, war ich wesentlich älter als Avicii. Wenn sich das Ding peu à peu vergrößert, hat man viel mehr Zeit, selbst mitzuwachsen. Von null auf hundert scheint sehr gefährlich zu sein. Das ist für eine Seele nicht leicht verdaulich.

STANDARD: EDM wird von Intellektuellen und Technoauskennern oft belächelt. Zu Recht?

Kalkbrenner: Das ist zwar überhaupt nicht meine Baustelle, aber ich versuche höflich zu sein. Ich versuche, mich in die anderen einzufühlen, was für sie Musik bedeutet. Die wollen einfach eine gute Zeit haben, und dann tut es das für sie. Wer bin ich, dass ich mit dem cäsarischen Daumen nach unten zeige. Ich bin für "Leben und leben lassen".

STANDARD: Die meisten EDM-Chartstürmer bauen auf euphorisierende, vergnügte Melodien, alles schreit nach Spaß. Bei den Kalkbrenners gab es immer Melancholie. Schützt Sie das vor dem Ausbrennen, weil Sie in der Musik auch Ihre traurigen Seiten ausleben?

Kalkbrenner: Die Melancholie entspringt eher aus Kenntnis um die Natur dieser Musik, die ja im Ursprung überhaupt nichts Lustiges hatte, sondern Wut beinhaltete. House und Techno, die aus Chicago und Detroit kamen, waren finster und ernst. Techno ist kein Karneval. Man kann das natürlich machen, aber es entspricht nicht seiner Geschichte. Bei den alten House-Sachen hat der Spaß etwas Doppeldeutiges, es ist immer ein tränendes Auge dabei.

andreboros

STANDARD: Die Musik kam aus den Abbruchhäusern in den postindustriellen Elendsvierteln. Es ist kein Zufall, dass Techno in Ostberlin so groß wurde, oder?

Kalkbrenner: Es kann sein, dass sich Techno vor der Schablone der industriellen Großstadt besser entwickelt, es gibt ja auch noch andere Beispiele wie den Manchester-Rave. Vielleicht drängt sich diese Musik dort mehr auf als etwa in der schönen Steiermark. Klar ist: Räume schaffen Möglichkeiten. In Ostberlin gab es sehr viele frei gewordene Fabrikflächen für die neue Musik aus Westberlin.

STANDARD: Sie sind in Ostberlin aufgewachsen. Ihre Eltern waren Journalisten, Ihr Großvater der bekannte Maler Fritz Eisel. Wie war das Verhältnis zum DDR-Establishment?

Kalkbrenner: Mein Vater hat in den letzten Atemzügen der DDR Arbeitsverbot bekommen, aufgrund staatsfeindlicher Äußerungen. Mein Großvater hat seinen Rektorenposten an der Kunsthochschule verloren und ist innerhalb der DDR ins selbstgewählte Exil nach Mecklenburg gegangen. Wir haben versucht, uns durchzuwurschteln. Es war ein wahnwitziger Balanceakt.

STANDARD: Wie politisch ist die Familie Kalkbrenner heute noch?

Kalkbrenner: Unpolitisch kann man bei der Geschichte natürlich nicht sein, das ist klar. Wir haben auch Spaß an der Diskussion.

STANDARD: Glauben Sie, Techno hat gesellschaftlich etwas verändert?

Kalkbrenner: Ich glaube, das ist überinterpretiert. Zumal hier zur selben Zeit ja eine wirkliche politische Revolution stattgefunden hat. Es ist ein Unterschied, ob man sich von sechs Gummiknüppeln niederschlagen lässt oder ob man fröhlich durch die Gegend tanzt. Denkbar ist, dass Techno bei vielen für ein offenes, freieres Gedankengerüst gesorgt hat und das wiederum ins Alltagsleben übergegriffen hat.

STANDARD: Heute ist viel die Rede vom kommerziellen Ausverkauf des Berliner Ostens. Ist das übertrieben?

Kalkbrenner: Ich glaube, dass das schon durchdekliniert ist. Die Clubbetreiber kennen die Problematik, das sind heute mittelständische Unternehmen. Viel altruistischer Spirit ist da nicht mehr übrig. Durch die Marktorientierung sind aber auch viele große Dinge erst möglich geworden. Wenn man den romantischen Spirit von 1990 so weitergetragen hätte, wäre er nicht überlebensfähig gewesen.

STANDARD: Es gibt aber wieder einen stärkeren Zug hin zu kleinen, unangemeldeten Raves. Hängt das mit der Kommerzialisierung zusammen?

Kalkbrenner: Klar. Es findet immer wieder die Suche nach neuen Nischen statt. Es gibt immer mehr kleine Läden, die sehr abgeschieden liegen, die keine DJs auf dem Programm ankündigen, wo man sich überraschen lassen muss. Aber selbst bei diesen waghalsigeren Sachen wird nach zwei Tagen ein Kassensturz gemacht.

Fritz Kalkbrenner

STANDARD: Sie singen die Vocals in Ihren Liedern selbst ein und tun das auch live. Wie kam das?

Kalkbrenner: Zum ersten Mal für eine Produktion gesungen habe ich mit 20. Da habe ich den Mund zu voll genommen und gemeint, dass ich das kann. Danach kam das ganz natürlich, ohne Ausbildung. Es gab auch kaum jemanden, der das so gemacht hat. In erster Linie bin ich aber immer noch ein Produzent, der singt – nicht umgekehrt.

STANDARD: Ihr neues Album "Drown" ist das erste, auf dem Sie nicht singen. Warum?

Kalkbrenner: Ich hatte die Sounds fertig, fand sie gut und hätte dann gewissermaßen mit Gewalt Vocals drüberlegen müssen. Das wollte ich nicht. Glücklicherweise ist Techno ja eine Musikrichtung, wo man auch einfach einmal das Instrumentale für sich sprechen lassen kann. So gesehen ist das Album für mich ein Ausflug zu den Wurzeln der elektronischen Musik. (Stefan Weiss, 27.6.2018)