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Wo ein Fußfetischist die Abendjause rettet

Die Matura ist geschafft, im Herbst geht’s an die Uni und für ein Vorhaben ist das Geld angespart. "Führerschein oder Interrail?" ist die zentrale Frage des Sommers anno dazumal. Die Reise gewinnt – endlich mal "die Welt" kennenlernen!

Begleitet von einer Schulkameradin und ausgestattet mit Tramperrucksack, Schlafsack, Zelt und Interrailticket fahre ich in den Süden. Quer durch Nord- und Mittelitalien, Südfrankreich, Spanien und Portugal. Das Reisebudget ist knapp, weswegen wir bevorzugt in den Nächten weiterreisen. In Florenz übernachten wir am Hauptbahnhof, in vollen Zügen schlafen wir schon einmal mit dem Schlafsack am Gangboden, und es kommt auch vor, dass wir während der Fahrt neben einer offenen Zugtür sitzen. Es geht uns gut, und wir genießen das Abenteuer.

Das Geld geht uns glücklicherweise erst in Paris aus, unserer letzten Station. Ohne einen einzigen Franc und zu müde für die Metropole warten wir am Gare de l’Est mehrere Stunden auf die Heimfahrt, sehen mit Hitlergruß Vorbeimarschierende und einen mutmaßlichen Rucksackdieb – nur nicht einschlafen! Unsere Abendjause rettet ein Fotograf, der meine Mitreisende dafür bezahlt, ihre Füße für ein Magazin fotografieren zu dürfen. Manches habe ich vielleicht auch nur geträumt …

Daniela Yeoh (geboren 1974) ist Datenjournalistin beim STANDARD und hat immer die hilfreichsten Antworten auf alle Computerfragen parat.

Foto: Getty Images/dem10

Wie eine alte Französin einen Problemzug verfolgt

Und dann waren sie weg, unsere Rucksäcke. Ohne uns auf dem Weg nach Paris. Meine Freundin Rebekka und ich, beide 17 Jahre alt, befanden uns auf der Heimreise. Von Barcelona sollte es über Paris nach Wien gehen. Nahe Montpellier hielt der Zug an. Von der Durchsage erkannten wir nur die Wörter "problème" und "électricité". Wir müssen eine Pause machen, sagte eine Mitreisende, oder zumindest glaubten wir das zu verstehen.

Also stiegen wir aus, um uns kurz die Beine zu vertreten. Unseren Platz hinterließen wir unverändert: den Rucksack auf dem Sitz, mein Buch auf dem kleinen Tisch bei der aktuellen Seite aufgeschlagen. Gerade als wir dem Bahnsteig den Rücken kehrten, ertönte ein Pfeifen. Unser Zug war weg. Ohne Durchsage, ohne Vorwarnung. Ich fing zu schwitzen an. Werden wir unsere Rucksäcke je wiedersehen?

Wir schalteten schnell, rannten zur Straße und streckten den Daumen hoch. Eine ältere französische Dame hielt an und ließ uns einsteigen. Es begann eine wilde Fahrt: mit dem Auto dem Zug hinterher, konstant 20 km/h über der Höchstgeschwindigkeitsgrenze. Bei Avignon konnten wir tatsächlich wieder einsteigen. Erleichterung: Unser Gepäck war noch da, das Buch weiterhin aufgeschlagen. Zwei Jahre später ging ich zum Studieren nach Frankreich, um besser Französisch zu lernen. Nun verstehe ich endlich die Bahndurchsagen.

Lisa Breit (geboren 1989) ist Redakteurin des STANDARD im Ressort Karriere und schreibt über Bildung und aktuelle Trends der Arbeitswelt.

Foto: Getty Images/iStockphoto/Orchidpoet

Was besser aufs Autodach und zu ängstlichen Eltern passt

Die Matura nahte mit Riesenschritten und so auch der den Eltern monatelang angedrohte Interrail-Sommer. Sie waren das, was man heutzutage "Helicopter-Parents" nennt: eine Mutter, die sich wegen jeder noch so kleinen Kleinigkeit Riesensorgen machte. Eh rührend, aus dem Abstand mehrerer Jahrzehnte betrachtet. Und ein Vater, der ebendiese Sorgen, so gut es ging, vermeiden wollte. Auch rührend, irgendwie.

Klar, dass da die Vorstellungsmuster divergierten. Hier (ich) Entdeckung und Abenteuer, dort (sie) Raubüberfall und Totschlag – im besten Fall. Während ich also ein paar Tage vor der mündlichen Französisch-Matura so tat, als würde ich mich auf die wirtschaftliche Entwicklung des Maghreb konzentrieren, kam mein Vater zu mir und meinte: "Wir müssen reden." – "Na geh, ich muss lernen …" (stilles Gebet, er möge mein Tachinieren, äh … Prokrastinieren nicht bemerken) – "Die Interrail-Reise. Muss die wirklich sein? Willst du nicht lieber surfen gehen statt im stinkerten Zug zu sitzen?" – "Hmm ..." – "Natürlich geht das nur mit einer g’scheiten Ausrüstung …" – "Hmmmmmmmm …"

Um es kurz zu machen: Jeder hat seinen Preis. Meiner war ein saucooler Sinker von Tiga, der mit seinen pink-türkis-gelben Streifen hervorragend aufs Dach meines undefinierbar grünen Fiat 127 passte.

Gianluca Wallisch (geboren 1967) ist stellvertretender Ressortleiter der Außenpolitik beim STANDARD.

Foto: Getty Images/iStockphoto/Blade_kostas

Wenn Riesenjoghurts das Überleben sichern

Skandinavien sollte es werden, mit dem besten Freund. Es waren die frühen 1990er Jahre und ich wünschte mir Abenteuer ohne abenteuerlustig zu sein. Die Annäherung erfolgte in Etappen. Berlin erschien abweisend, der Blick über die Brache eines angeblichen Potsdamer Platzes eine Lektion in Absurdität. Die Nachtfahrten – und nur solche durften es sein – forderten schon in Kopenhagen ersten Tribut. Von Schlafmangel geschwächt, begann ich an der Königsdisziplin der Interrailer, dem lässigen Zeittotschlagen in Bahnhofshallen, zu scheitern. Unsere eisenbahnerische Meisterleistung war eine Tour von Oslo via Stockholm nach Narvik, 2000, nur von Umsteigestopps mäßig akzentuierte Kilometer. Die durch Betrachtung des ununterbrochenen vorbeiziehenden Baumbestands hervorgerufene Trance wurde durch die Eintönigkeit mittel- und nordschwedischer Perspektiven kaum angekratzt.

Umso nachhaltiger leistete dies dann aber die Erkenntnis, dass die örtliche Jugendherberge ihre erklecklichen Einkünfte aus fantastisch bepreisten Schlafsaalplätzen durch die Abpressung eines Extra-Oboblus für die Benutzung einer Duschgelegenheit noch weiter zu steigern wusste. Ein Glück, dass die Gefahr eines Übermaßes an Aufregung während der folgenden Erwartung der Mitternachtssonne durch gnädiges Aufziehen dichter Bewölkung rasch im Keim erstickt wurde. Überhaupt schien die Teuerungsrate mit jedem Grenzübertritt weiter befeuert zu werden. Auf dem Höhepunkt, in finnischer Fremdheit, sicherten allein noch Riesenjoghurts ein Überleben.

Michael Robausch (Jahrgang 1969) ist Redakteur im Sport-Ressort des STANDARD. Er mag besonders Fußball und Rugby.

Foto: Getty Images/iStockphoto/brytta