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Die Kul-Scharif-Moschee von Kasan gilt als eines der repräsentativsten Bauwerke der Stadt.

Foto: Reuters / Jorge Silva

Weit über die Wolga hinweg leuchten im schönsten Türkisblau Kuppel und Spitzdächer der Minarette in den Kasaner Nachthimmel. Darunter glänzt virtuos angestrahlt der weiße Marmor, während die Fenster von innen heraus grün leuchten. Die Kul-Scharif-Moschee ist das von den WM-Fußballfans am meisten fotografierte Motiv des Kasaner Kremls. Dabei ist die Moschee kein historisches Bauwerk, sondern steht erst seit etwas mehr als zehn Jahren an ihrem Platz, erbaut aus Spendengeldern und Budgetmitteln der Region Tatarstan als Nachbau einer legendären, angeblich achtminarettigen Moschee, die 1552 bei der Eroberung der Stadt durch Truppen Iwans des Schrecklichen zerstört wurde.

Die Anweisung zum Bau hat der damalige Präsident der russischen Teilrepublik, Mintimer Schaimijew, in den 90er-Jahren gegeben. Den Ort für die Moschee wählte er bewusst im historischen Kreml. Sie liegt direkt gegenüber der aus dem 16. Jahrhundert stammenden und ebenfalls angestrahlten Mariä-Verkündigungskathedrale. Die beiden sind allenfalls getrennt durch die inzwischen als Bildergalerie dienende ehemalige Junkerschule, über die beide Sakralbauten aber hinwegleuchten. So sollen sie das friedliche Miteinander von Christen und Muslimen in Tatarstan symbolisieren.

Kaum eine Rolle für die Religion

Tatsächlich gelten religiöse und ethnische Auseinandersetzungen in der Republik eigentlich seit langem als inexistent, und das einst als Schimpfwort genutzte Wort Tatare als Synonym für das wohl am besten integrierte muslimische Volk in Russland. 53 Prozent der knapp vier Millionen Einwohner sind ethnische Tataren – und damit zumindest aus historischer Sicht Muslime. 40 Prozent sehen sich als ethnische Russen. Praktisch in jedem Ort der Wolgaregion stehen sowohl Moscheen als auch orthodoxe Kirchen. Auf dem Tukaja-Platz im Zentrum Kasans laufen Frauen im züchtigen Kopftuch ebenso herum wie freizügig gekleidete junge Mädchen – und keiner stört sich an einer der beiden Varianten.

"Ich bin Muslimin, und meine Muttersprache ist Tatarisch", sagt Lilja, aber in ihrem Alltag spielen weder Religion noch Herkunft eine große Rolle. Die aus dem Kreis Asnakajewo im Südosten Tatarstans stammende junge Frau studiert in Kasan, so wie tausende Altersgenossinnen und -genossen. Sie lebt im Wohnheim, trägt ihre langen Haare offen und träumt davon, später nach Moskau zu gehen – wegen der besseren Arbeitsmöglichkeiten, aber auch wegen der Clubs und des Nachtlebens, wie sie gesteht. In diesem Sommer arbeitet sie als Volontärin bei der Weltmeisterschaft, eine "Chance, um sich mit interessanten Menschen bekannt zu machen", wie sie meint.

Selbstverständliche Toleranz

Auch gemischte Ehen sind weit verbreitet. So wie die zwischen Wladimir und Fausija. Das Paar hat sich vor gut 40 Jahren während des Studiums in Kasan kennengelernt. Probleme wegen der Religion habe es nicht gegeben. "Meinetwegen ist sie sogar zum orthodoxen Glauben übergetreten", sagt der 64-jährige Wladimir, der als Systemadministrator in Kasan arbeitet. Er selbst bezeichnet sich als Russen, aber es gebe wohl niemanden in der Region, in dessen Adern nicht auch ein bisschen Blut einer anderen Nationalität fließe, fügt er hinzu.

Und so gilt auch gegenseitige Toleranz als selbstverständlich. Begünstigt wird diese Toleranz natürlich durch den wirtschaftlichen Erfolg der Region. 2017 lag das regionale BIP bei umgerechnet 30 Milliarden Euro, damit ist Tatarstan einer der Nettozahler für den russischen Haushalt. Bei der Lebensqualität liegt die Region auf Rang vier im russischen Vergleich, lediglich von Moskau und seinem Speckgürtel sowie St. Petersburg übertroffen.

Ein tatarisches Silicon Valley

Der Ölreichtum der Republik bildet die Grundlage des Wohlstands. "Aber Tatarstan ist auch eine Industrieregion", erklärt Wladimir. Chemische Industrie und Maschinenbau, Baugewerbe und Energieproduktion sind stark vertreten. Die Regionalregierung hat zudem in den letzten Jahren verstärkt auf eine Ansiedlung von Hightech-Betrieben gesetzt.

Vor den Toren Kasans hat sie das Forschungsstädtchen "Innopolis" aus dem Boden gestampft, das zu einem Äquivalent des kalifornischen Silicon Valley werden soll. Das Investitionsklima gilt als hervorragend – und das wiederum ist unter anderem auf die gelungene Integration zurückzuführen: Die wenigsten Tatarinnen sehen ihre Rolle als jene der Hausfrau, daher gibt es in der Republik viele gut ausgebildete Fachkräfte. (André Ballin aus Kasan, 27.6.2018)