Ein Gipfel ist kein Gipfel ohne traditionelles Familienfoto. Im Bild: drei Murmeltiere (Marmota marmota) vor dem Großglockner, der höchsten Erhebung des EU-Mitglieds Österreich.

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Nietzsche passt immer, aber aktuell trifft seine Philosophie mit dem Hammer die deutsche und die davon betroffene EU-Politik auf den Punkt. Egal ob "Menschliches, Allzumenschliches" oder "Die Geburt der Tragödie" oder "Jenseits von Gut und Böse" – all das steckt im Konflikt der deutschen "C"-Parteien und dem damit befeuerten Asylstreit in Europa. Und hat das Potenzial zur EU-Götzen-Dämmerung. Deshalb wünschte sich STANDARD- Redakteurin Petra Stuiber eine paradoxe Intervention für die Staats- und Regierungschefs beim dieswöchigen EU-Gipfel: "Ein Dinner der Utopien, als Abschluss der bulgarischen und als schöne Überleitung zur österreichischen Präsidentschaft."

28 Berge, 54.000 Höhenmeter

Gute Idee, aber ein Abendessen ist zu wenig schräg, dass diese Runde Utopien entwickelt, geschweige denn eine Vision, die europäisch höher schaut als die nationalen Grenzen-hoch-Drohungen. Besser zurück zu Nietzsche und seinem Rat, "keinem Gedanken Glauben zu schenken, der nicht im Freien geboren ist und bei freier Bewegung". Heißt, rauf mit den EU-Spitzen auf die EU-Gipfel aus Fels und Eis: 28 höchste Berge, 54.000 Höhenmeter liefern genug Aus- und Einsichten und paradoxe Intervention für eine proeuropäische Inspiration.

Erstes Ziel: Noch-EU-Ratspräsident Bulgarien und sein höchster Gipfel Musala. "Gotteslob" bedeutet der Name, was die C-Recken Seehofer und Söder sicher freut. Wer aus der Runde wird sie wohl anrufen und verraten, dass kein Gipfelkreuz oben steht? Dafür gibt es einen A-Promi als Erstbesteiger: Philipp II. von Makedonien, berühmter Vater des noch berühmteren Sohns. Steilvorlage für Alexis Tsipras und seine "good news": Der Namensstreit mit Mazedonien ist mit EU-Unterstützung endlich beigelegt – Alexander der Große, schau oba! Eine wunderbare Freundschaft zwischen Griechenland und Nord-Mazedonien beginnt. Die EU-Spitzen steigen von ihrer ersten Spitze mit dem Gefühl hinunter, dass sie funktionieren könnte, die EU, wenn sie sie funktionieren ließen.

Tsipras lädt die EU-Gipfelstürmer quasi ums Eck auf den Olymp ein. Beim Zeus, gute Entscheidung! Mytikas heißt die höchste Spitze, einst Pantheon der Götterschar, heute auch für EU-Halbgötter nur über die "Kakoskala" (schlechte Treppe) zu erklettern. Ein Adler, aber niemals ein Mensch werde da raufkommen, lautete das alpine Credo bis 1913. Dann fand der Gämsenjäger Christos Kakalos einen Weg – aber nur auf Initiative und mit Unterstützung von zwei Schweizern. Wie viel scheinbar Unmögliches mit europäischer Solidarität doch möglich ist!

Dinara, der höchste Berg Kroatiens, ist an der Reihe. Der Weg zum Gipfel führt durch Knin. Das Städtchen ist eine weniger bekannte Verwandte von Vukovar, Srebrenica und der anderen Todesorte der Jugoslawienkriege. Auch in Knin wurde vertrieben, getötet, "ethnisch gesäubert". Beim Wandern geht den Politspitzen diese unselige Vergangenheit nicht aus dem Kopf. Gut so, sie sollen den Aufstieg nützen, um über die Zukunft der Westbalkan-Staaten nachzudenken. Ist es der Weisheit letzter Schluss, ihnen die Beitrittsperspektive wie eine Karotte vorzuhalten, sie aber nie zubeißen zu lassen?

Gipfel, wechsle dich

Auf in die Hohe Tatra. Der Name des höchsten Bergs der Slowakei erzählt die politische Geschichte des Landes: Im 18. Jahrhundert nach der Gemeinde zu seinen Füßen "Gerlacho" benannt, heißt der Berg zwischen 1896 und 1919 "Franz-Joseph-Spitze", wird danach zur "Polnischen Spitze", um 1923 "Spitze der tschechoslowakischen Legionäre" zu heißen; 1932 nennt man ihn wieder Gerlach, 1939 "Slowakische Spitze", von 1949 an "Stalin-Spitze" und seit 1959 "Gerlachovský stít". Bleibt es dabei?

Alles wird anders mit Großbritannien. Deshalb sollte der EU-Tross noch schnell auf den Ben Nevis, die schottische Spitze des Vereinigten Königreichs. "Kopf in den Wolken" bedeutet der bei 300 Schlechtwettertagen passende Bergname. "Kopf in den Sand" passt zur Brexit-Strategie der britischen Regierung. Würden May und Johnson doch auf einen wie Thomas Morus hören: "Es kommt niemals ein Pilger nach Hause, ohne ein Vorurteil weniger und eine neue Idee mehr."

Bis zu dieser zündenden Idee für einen nicht zu harten Brexit verschieben die EU-Regierungschefs ihre Tour auf den irischen Carrauntoohil. Die Kletterei durch die steile Geröllrinne mit Namen Devil's Ladder ist zu riskant. Angesichts drohender neuer Grenzen will niemand den mühsam mit EU-Blau überstrichenen "The Irish will never forget and the British will never remember"-Teufel erneut an die Wand malen.

Da fährt man lieber mit der Seilbahn auf die Schneekoppe im tschechischen Riesengebirge. Die überwiegend sächsischen Gäste fühlen sich dort wie daheim, man spricht Deutsch, wieder Deutsch. Brückenbauer Tourismus! Rübezahl mit seinen Zwergen freut sich, dass zusammenwächst, was zusammengehört. Nur Viktor Orbán mag die Riesengebirgssuppe im Schlesier-Haus nicht schmecken. Er ist angefressen, dass die anderen nicht auf Ungarns höchsten Berg Kékesteto wollen. Sie finden seinen Vergleich zwischen Flüchtlingen und den 1241 die Kékes-Gegend verwüstenden Mongolenheeren übertrieben. Liberales Pack!

Das Glocknerschartl

Solange die Gruppe nicht besser harmoniert, will sie auch die Einladung aus Österreich verschieben. Das Glocknerschartl zwischen Klein- und Großglockner ist nur einen Fuß breit, links und rechts geht es steil und weit hinunter. Da sollte sich die Seilschaft aufeinander verlassen und auf den Seilersten vertrauen können – beides ist nicht der Fall.

Da fliegen sie besser auf die Azoren, besteigen den Pico und sind auf dem höchsten Berg Portugals näher zu New York als zu Wien. Danach geht's zum Großen Eierberg in Estland, zum Gaizinkalns in Lettland und Aukstojas in Litauen, und die Equipe lernt, dass die EU-Außenpolitik gegenüber West und Ost mit der Kreisky-Maxime gut beraten wäre: "So viel Vertrauen wie möglich mit den USA, so wenig Misstrauen wie möglich mit Russland."

Spaniens höchster Berg ist der Teide auf Teneriffa. Das Ziel wird gestrichen, Afrika ist der EU-Spitze zu heiß. Es ist auch einfacher, Außengrenzschutz und Hotspots zu fordern, als die Tragödien an der Festung Europa mit eigenen Augen zu sehen. Wie schon EU-Gründervater Jean Monnet wusste: "Zu beschreiben, was sein sollte, ist leicht, es kommt aber darauf an, zu beschreiben, was sein kann."

Kneiff und Vaalserberg

Die ausständigen Landeshöchsten werden auf den nächsten Gipfelausflug verschoben. Der Kneiff, in Luxemburg geht sich noch aus. Als sie durch Ulfingen wandern, erklärt Jean-Claude Juncker, dass hier am 1. August 1914 der Erste Weltkrieg im Westen begonnen hat. Und wie sie den nicht sehr hohen höchsten Berg der Niederlande anhängen, den Vaalserberg im holländisch-belgisch-deutschen Dreiländereck, da treffen sie den dort wohnenden Ersten Kommissionsvizepräsidenten Frans Timmermans. Der erzählt von seiner Tochter, die ihn einmal beim Radeln in diesem jahrhundertelang von Grenzen gespickten Landstrich fragte: "Papa, was ist das, eine Grenze?"

Und dann gelingt Timmermans noch die von Petra Stuiber erhoffte paradoxe Intervention für eine europäische Inspiration: "Wissen Sie", erzählt er den EU-Staats- und -Regierungschefs, "in dem Haus, in dem wir wohnen, wurden im Zweiten Weltkrieg Juden versteckt. In unserer Straße haben Deutsche Niederländer erschossen. Und heute, 70 Jahre später, fragt meine Tochter, was eine Grenze ist. Das ist so schön! Das schmeißt man doch nicht einfach weg!" (Wolfgang Machreich, 27.6.2018)