Wien – Zwei zentrale Funktionen erfüllt ein Parlament in einer Demokratie. Zum einen werden im Nationalrat Gesetze beschlossen. Zum anderen schaffen Parlamente öffentlich zugängliches Wissen. In Österreich sorgt meist die mehrwöchige Begutachtung von Gesetzen dafür, dass vor jedem Beschluss Interessenvertreter, Experten und Lobbyisten aller Art sich einbringen können.

Beitrag aus der ZiB um 17 Uhr.
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Im Zug der Begutachtung können sie ihre öffentlich zugänglichen Stellungnahmen und Analysen abgeben. Bei der geplanten Reform des Arbeitszeitgesetzes läuft der Vorgang anders ab. Türkis und Blau haben den Antrag, mit dem die Regeln zur Höchstarbeitszeit geändert werden sollen, Mitte Juni direkt im Nationalrat eingebracht. Die Regierungsparteien haben sich dabei eine Frist gesetzt: Spätestens am Donnerstag muss eine Behandlung des Gesetzes im Parlamentsplenum erfolgen. Im Regelfall bedeutet das, dass kommende Woche bereits das neue Arbeitszeitgesetz beschlossen wird.

Die knappe Zeit für Stellungnahmen über die Auswirkungen der Reform hat eine Gruppe von sechs Wissenschaftern, darunter zwei Psychologen, zwei Soziologen, ein Jurist und eine Politikwissenschafterin, am Mittwoch versucht zu kompensieren. Unter dem Titel "Zwölfstundentag: Was sagt die Wissenschaft" haben die sechs ihre Erkenntnisse und Meinungen zum Thema referiert.

Viel Arbeit, lange Erholung

Die Stoßrichtung der Stellungnahmen war einhellig: Die von ÖVP und FPÖ geplante Gesetzesreform, die es möglich macht, dass künftig leichter zwölf anstelle von zehn Stunden maximal am Tag gearbeitet werden darf, ist ein Schritt in die falsche Richtung. Für Zwischentöne bei diesem Befund war wenig Platz.

Gerhard Blasche, Gesundheitspsychologe vom Zentrum für Public Health der Medizinischen Universität Wien, präsentierte seine Forschungserkenntnisse zum Thema. Er hat die Belastung von Altenpflegern mit Zwölfstundentagen untersucht. Einzelne Arbeitstage von extrem langer Dauer seien nicht problematisch, solange dann ausreichend Zeit für Erholung möglich ist, so der Psychologe. Auch ein oder zwei Wochen mit 60-Stunden-Arbeitsbelastung hält er für verkraftbar, sofern darauf mehrere Wochen Pause von der hohen Belastung erfolgen.

Sechs Wissenschafter gegen den Zwölfstundentag. Von links: Gerhard Blasche (Psychologe), Caroline Berghammer (Soziologin), Christian Korunka (Psychologe), Jörg Flecker (Soziologe), Gabriele Michalitsch (Politologin) und Martin Risak (Jurist).
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Studenten, die lange und intensiv für eine Jahresabschlussprüfung lernen, brauchen zum Beispiel vier bis fünf Tage Erholung, um wieder körperlich auf dasselbe Niveau wie vor der Prüfung zu kommen, fasste Blasche die Ergebnisse einer Studie zusammen.

Mehr Herzinfarkte

Über einen längeren Zeitraum 55 Stunden oder mehr zu arbeiten erhöhe grundsätzlich das Gesundheitsrisiko. Die Gefahr für Herzinfarkte steige, Depressionen nehmen zu. Wer 60 Stunden arbeite, gehe müder in die nächste Woche, wer zwölf Stunden am Tag arbeitet, sei weniger produktiv. Einwand: Wie sich die neuen Arbeitszeitregeln auswirken, ist unklar. Bisher ist es unter engen Voraussetzungen möglich, zwölf Stunden zu arbeiten.

In Betrieben mit Betriebsrat ist dazu eine Betriebsvereinbarung notwendig. Möglich sind die langen Arbeitstage aber. Ob die neuen Regeln bedeuten, dass öfter zwölf Stunden gearbeitet werden muss, ist umstritten.

Genaue Wirkung bleibt umstritten

Wirtschaftskammer und Industriellenvereinigung sagen darauf Nein: Eher werde nur die derzeitige Praxis dort legalisiert, wo es keine entsprechende Vereinbarung gibt, aber Zwölfstundentage dennoch vorkommen. In diesen Unternehmen müsse aktuell bei Arbeitszeitaufzeichnungen getrickst werden. Damit sei nun Schluss.

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Erhöht die neue Arbeitszeitregelung den Druck auf Mitarbeiter?
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Der Soziologe Jörg Flecker sieht das anders. Er erwartet einen Wandel der Einstellungen. Aktuell würden für Menschen die 40-Stunden-Woche und der Achtstundentag als Norm gelten. Ob man selbst viel oder wenig arbeite, wird daran gemessen. Die leichtere Ausweitung der Höchstarbeitszeit werde dafür sorgen, dass künftig mehr Stunden als normal empfunden werden. Damit steigen die Chancen, dass die gesellschaftliche Arbeitszeit insgesamt steigt.

Das Problem treffe nicht alle gleich: Jüngere Arbeitnehmer haben mit längeren Arbeitstagen weniger Probleme als ältere. Für Beschäftigte über 50 könnte es schwieriger werden, am Arbeitsmarkt unterzukommen, wenn Arbeitgeber sich mehr Überstunden erwarten. Das Gleiche gelte für Alleinerziehende. Flecker findet im geplanten Arbeitszeitgesetz kein gutes Wort.

Einwand: Die Reform streicht auch Bestimmungen, die unter der Hand selbst von Vertretern der Arbeitnehmer als veraltet angesehen werden. In Betrieben ohne Betriebsrat muss ein Arbeitsmediziner bescheinigen, dass auch einmal zwölf Stunden gearbeitet werden kann. Ein solches Gutachten kann je nach Aufwand des Mediziners einiges kosten, Preise von um die 1.000 Euro sind laut Arbeitsmedizinern nicht unüblich. Ist das nicht eine unnötige Belastung für Klein- und Mittelbetriebe? Der Jurist Martin Risak will das nicht gelten lassen.

Mehr Personal nötig

Gastronomiebetriebe könnten bei höherem Bedarf vorsorgen und zusätzliche Kräfte einstellen, damit zwölf Stunden gar nicht notwendig werden. Auch argumentiert er, dass die bisher geltenden Betriebsvereinbarungen, bei denen sich Arbeitnehmer ihre Zustimmung zu den Zwölfstundentagen haben abkaufen lassen, ungültig werden.

Einwand: In Unternehmen und Branchen, wo die Gewerkschaft stark genug ist, wird sie weiter dafür sorgen, dass die günstigen Regelungen aus Sicht der Arbeitnehmer bestehen bleiben. Möglich ist, dass es damit mehr Arbeitskämpfe geben wird. Aber wo die Gewerkschaft Einfluss hat, wird sich wenig ändern.

Die Politologin Gabriele Michalitsch widersprach dem heftig: Wenn gesetzliche Regeln aufgeweicht werden, steige damit der Druck auf einzelne Mitarbeiter. Das werde auch eine Gewerkschaft nicht kompensieren können. (András Szigetvari, 27.6.2018)