Aufklärung für Kinder kann nie zu früh sein, findet Dagmar Geisler.

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Die Autorin und Illustratorin Dagmar Geisler wünscht sich, dass Eltern in Sachen Aufklärung eine Lockerheit einüben.

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STANDARD: Sie haben seit den 1990er-Jahren eine Reihe vielbeachteter Aufklärungsbücher für Kinder illustriert und geschrieben. Hat sich seither etwas im Umgang mit dem Thema geändert?

Geisler: Seit den 1990er-Jahren hat sich eine ganze Menge geändert. Viele Menschen wollen nicht mehr so offen über das Thema sprechen, wie es noch vor 20 Jahren der Fall war. In den 1980er-Jahren wünschten sich Eltern eher aufmüpfige Kinder – Buben und Mädchen, die ihre Sache stark vertreten. Inzwischen ist das rückläufig geworden. Manche Eltern möchten nicht, dass ihr Kind unhöflich ist und öffentlich Nein sagt.

STANDARD: In Ihren Büchern erfahren Mädchen und Buben nicht nur, woher die Babys kommen, es geht auch um Selbstvertrauen und eben um diesen Mut, Nein zu sagen.

Geisler: Ich bin sehr dafür, dass mit Kinder in einer liebevollen Atmosphäre so früh wie möglich über Gefühle, Liebe und Sexualität gesprochen wird. Das kann nebenbei und spielerisch passieren, indem ein Buch zum Thema in der Wohnung rumliegt. Bei Aufklärungsbüchern für kleinere Kinder ist mir wichtig, offen und ehrlich, aber auf eine kindgerechte Weise auszusprechen, worum es geht. Ich versuche in meinen Büchern auch immer Humor einzubringen.

STANDARD: Einige Eltern befürchten, dass ihre Kinder "zu viel" über Sexualität Bescheid wissen. Wie sehen Sie das?

Geisler: Manche Erwachsene machen sich Sorgen, wenn in Kinderbüchern zum Beispiel das Wort Sperma vorkommt. Sie fürchten, die Kleinen könnten, wenn sie auf die Straße gehen und dieses Wort benutzen, auf Menschen treffen, die dann geschockt reagieren oder blöde Witze darüber machen. Ich denke, auch das Wissen darüber, dass es diese Scham gibt, gehört dazu. Wenn ich mit einem Kind darüber spreche, kann ich auch über die Schwierigkeiten erzählen, die viele Menschen damit haben, locker über sexuelle Themen zu sprechen.

STANDARD: Es kam auch schon mal vor, dass Eltern wegen Ihrer Bücher Bibliotheken boykottiert haben. Werden Eltern immer prüder?

Geisler: Angeblich gibt es eine große Offenheit, was sexuelle Themen anbelangt – so wird es zumindest in der Öffentlichkeit vermittelt. Gleichzeitig kommen über das Internet neue Gefahren auf Kinder zu, denken wir an Pornos im Netz. Das macht Eltern Angst, und sie wollen, dass ihre Kinder noch behüteter aufwachsen. Das reicht bis hin zu Diskussionen von Elternverbänden, die regelrecht dagegen protestieren, dass ihre Kinder mit Sexualkunde in Berührung kommen. Es gibt einerseits prüde, andererseits ängstliche Eltern – viele sind auch uninformiert und wissen nicht, wie wichtig es ist, Kinder frühzeitig aufzuklären.

STANDARD: Warum?

Geisler: Um Kinder stark zu machen – und um sie zu schützen. Je informierter Kinder sind, umso besser können sie Situationen einordnen. Das Gefühl, Bescheid zu wissen, gibt ihnen Sicherheit. Eltern und andere Bezugspersonen sollten mit Kindern auch von klein auf über Gefühle sprechen. Wenn es dazu eine Gesprächskultur gibt, weiß das Kind, dass es mit diesem Thema kommen und Fragen stellen kann. Das macht sie weniger hilflos, wenn ihnen etwas begegnet, dass wirklich nicht für sie bestimmt ist. Wenn ich nachmittags im Radio dreimal das Wort Kinderpornografie höre und mich mein Kind fragt, was das denn sei, sollte ich Worte dafür finden. Das Thema umgibt uns, und wir brauchen Antworten für unsere Kinder.

STANDARD: Können Bücher die Sexualaufklärung der Eltern ersetzen?

Geisler: Ein Buch kann das immer nur unterstützen, nicht ersetzen. Bücher können Eltern helfen, eine Sprache dafür zu finden. Ich achte in meinen Büchern auch darauf, Gesprächsanlässe einzubauen, damit man in den eigenen Worten weiter darüber diskutieren kann.

STANDARD: Homosexualität, Samenspende, Leihmutterschaft, Intersexualität: Sexuelle Aufklärung bringt viele Aspekte mit sich. Wie viel und ab wann sollten Kinder darüber Bescheid wissen?

Geisler: Das gehört alles zum Leben. Kinder machen da keine Einteilung in gut oder böse. Mein Ideal ist, dass man wertfrei mit dieser Vielfalt umgeht. Wenn im Kindergarten ein Kind zwei Väter hat, dann kann man auch darüber reden. Es gibt noch immer viele Unsicherheiten mit dem Thema. Es wäre schön, wenn Eltern da eine Lockerheit einüben. Sie könnten sich zum Beispiel gegenseitig Aufklärungsbücher vorlesen, bevor sie mit den Kindern darüber sprechen. Ich finde es gut, wenn man sich dem Thema stellt. (Christine Tragler, 1.7.2018)