Flüchtlinge auf dem Schiff Juventa der NGO "Jugend rettet" im November 2016.

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Europa demontiert sich, und Afrika schaut zu. Während beim EU-Gipfel nördlich des Mittelmeers gepokert und geschrien wurde, bleibt es südlich des Gewässers ruhig – obwohl die "Krise" dort ihren Ursprung hat. Afrikaner schauen mit zunehmender Befremdung zu.

Voraussichtlich werden in diesem Jahr 80.000 afrikanische Flüchtlinge, falls sie nicht ertrinken, übers Mittelmeer nach Europa kommen. Dagegen muss der kleine ostafrikanische Staat Uganda mit einer Million Flüchtlingen aus dem Südsudan fertigwerden. Von weltweit 66 Millionen Vertriebenen haben 86 Prozent nicht im wohlhabenden Norden Zuflucht gefunden – dennoch jammert südlich des Äquators kaum einer über die "Last". Für Afrikaner ist die Aufnahme von Flüchtlingen selbstverständlich: In Südafrika, wo bereits weit über zehn Prozent der Bevölkerung Flüchtlinge oder Migranten sind, denkt keiner über Abschottung nach. Zählt man auch weiße Südafrikaner als Migranten (was sie sind), stellt sich das Verhältnis noch krasser dar: In Europa scheinen viele vergessen zu haben, dass bis vor Jahrzehnten die eigenen Leute den Hauptteil des weltweiten Migrantenstroms ausmachten.

Dass Afrikas Regierungschefs derzeit so ruhig sind, hat noch andere Gründe: Sie sind gar nicht so unglücklich darüber, dass Teile ihrer Bevölkerung das Weite suchen. Das reduziert den Druck am Arbeitsmarkt, dämpft Unzufriedenheit und bringt Devisen. Wenn die Bevölkerung wählen könnte, ob sie sich lieber zu Hause oder – unter Einsatz ihres Lebens – auswärts verdingen sollte, würde sie die Heimat vorziehen. Entscheidend ist deshalb, an welche Afrikaner sich die europäischen Regierungen wenden, wenn sie die beste Strategie zur Eindämmung der Migration wollen.

Zynischer Vorschlag

Die jüngste Initiative, den afrikanischen Pufferstaaten Geld zukommen zu lassen, falls sie den Migrationsstrom drosseln helfen, geht in die falsche Richtung. Regierungen undemokratischer oder gescheiterter nordafrikanischer Staaten wie Libyen, Ägypten, Sudan oder Algerien Geld zu geben, damit sie Afrikaner aus anderen Staaten stoppen, internieren und wieder zurückschicken, ist ein an Zynismus kaum zu überbietender Vorschlag: Er belohnt die menschenrechtswidrigen Praktiken von Unrechtssystemen. Würden Europas Regierungschefs dagegen Vertreter der afrikanischen Bevölkerung – Gewerkschafter, Krankenschwestern, Lehrer oder Bauern – fragen, erhielten sie ganz andere Antworten. Diese sind nämlich interessiert daran, ihre Brüder und Schwestern im Land zu halten: Schließlich machen sich vor allem die Gewieften und Unternehmungslustigen auf den Weg – jene, die man zu Hause am dringendsten braucht.

Seit dem verheerenden Kolonialismus hat Afrika derzeit die besten Chancen, aus seinem von europäischen Migranten verursachten Albtraum zu erwachen: Technologien wie das Internet und das chinesische Engagement bei der Verbesserung der Infrastruktur haben ganz neue Möglichkeiten eröffnet. Und der ungarische Investment-Guru George Soros ist überzeugt, dass viele afrikanische Volkswirtschaften mit einem jährlich 30 Milliarden Euro umfassenden "Marshallplan" in Schwung gebracht werden könnten. Wie viel den Europäern langfristige Lösungen wert sind, bleibt ihnen überlassen. Sie sollten nur bedenken, dass jeder in die Befestigung Europas investierte Euro unproduktiv, auf lange Sicht nutzlos ist – während dieselbe Münze, sinnvoll in Afrika investiert, allen zugutekommt. (Johannes Dieterich, 28.6.2018)