Keine Ansprüche auf eine bedingungslose Zugehörigkeit: Olga Martynova, Bachmannpreisträgerin 2012.

Foto: Jürgen Bauer

In Erasmus von Rotterdams Buch Lob der Torheit ist die Dummheit eine nicht unattraktive Dame von zweifelhaftem Ruf, die gemeinsam mit ihren Töchtern Eigenliebe, Heuchelei und Vergesslichkeit ihre Gaben recht großzügig verteilt. Auch unter den Regierenden und der hohen Geistlichkeit.

Es mag eine Weile her sein, dass der niederländische Humanist mit seiner Schrift in den Nerv eines an Missständen nicht armen Europa bohrte – und beim Konzil von Trient (1545) von der Inquisition auf den Index gesetzt wurde. Doch manche Dinge ändern sich nicht. Viele rennen, so Olga Martynova in ihrem neuen Prosa- und Essayband, auch heute "der Dummheit der Stunde" nach. Vielleicht sogar mehr denn je.

Über die Freiheit

Es geht der 1962 im sibirischen Dudinka geborenen Lyrikerin und Prosaautorin, die seit fast dreißig Jahren in Frankfurt am Main lebt, jedoch nicht um intellektuelle Dünkelhaftigkeit, wohlfeile Ironie oder Besserwisserei, um moralische Belehrung erst recht nicht.

Vielmehr dreht sich in dem Band, der auf 300 Seiten unter dem Titel Über die Dummheit der Stunde (S. Fischer) 27 essayistische Texte vereint, alles um Freiheit – "und die Frechheit, die allgemeingültigen Vorstellungen und Forderungen nicht zu berücksichtigen". Es sind Sätze wie diese, die den Band, der an vielen Stellen die Ideologisierung der öffentlichen Debatte und den diskursiven Herdentrieb thematisiert, zu einem wichtigen Buch machen – und zu einem politischen.

Letzteres würde die Autorin, die in St. Petersburg aufwuchs und dort russische Literatur studierte, wahrscheinlich von sich weisen, obwohl – oder gerade weil – sie in der Sowjetunion dem literarischen Untergrund angehörte. Ihr feines Gespür für Propaganda und die Anzeichen einer Durchpolitisierung des Alltages hat Martynova auch im "Westen" bewahrt.

Genaue Beobachterin

Erst vor wenigen Jahren, im Jahr 2010, legte Martynova, sie lebte damals seit zwei Dekaden in Frankfurt, ihren ersten auf Deutsch geschriebenen Roman Sogar Papageien überleben uns im Grazer Droschl-Verlag (2010) vor. Zwei Jahre später gewann sie mit einem Auszug aus dem Roman Mörikes Schlüsselbein den Bachmannpreis.

Schon vorher hatte die genaue Beobachterin (und Selbstbeobachterin) begonnen, für Literaturzeitschriften und Zeitungen wie die NZZ ebenso präzise wie poetische Essays und Texte zu schreiben, die ihr Thema in assoziativen Suchbewegungen um- oder einkreisen. Nachzulesen sind sie nun zusammen mit einigen unveröffentlichten Texten in vorliegendem Band.

Alle Beiträge führen den Leser in einen zwischen Russland und Deutschland, Individuum und Gesellschaft, Literatur und Leben oszillierenden Denk- und Hallraum, in dem sich persönliche Wahrnehmung mit einem präzisen Wissen der Zeitgeschichte vereint.

Zwei Welten

In einem der längsten Beiträge des Buches, mit "Probleme der Essayistik" betitelt, schreibt die Autorin ausgehend von einem Essay Pankaj Mishras über Seelenbrüche und fragile Identitäten: "Ich habe Russland als erwachsener Mensch verlassen und hege, obwohl ich mich in beiden Welten zu Hause fühle, keine Ansprüche auf bedingungslose Zugehörigkeit". Sie vertrete, so Martynova weiter, nur sich selbst.

Wobei ihr Blick auf die Zustände stets differenziert ausfällt. Zuspitzung und Vereinfachung sind Martynovas Sache nicht – das zeigte auch ihre harsche Reaktion (nachzulesen auf fixpoetry.com) auf eine Rezension in einer deutschen Tageszeitung, in der ihr pauschalisierende Aussagen über Russland und "den Westen" unterstellt wurden.

"Manchmal", schreibt Martynova, "führt ein bisschen mehr Information über einen Umstand zu großen Unterschieden in seiner Bewertung." Dass Medien diese Wertung wesentlich beeinflussen, ist nur ein Thema des Buches, das auch auf ältere Texte wie Amérys Terror der Aktualität fokussiert.

Keine Antworten

Der Band endet mit einem Krim-Tagebuch aus dem Jahr 2017, in dem die Autorin die Halbinsel, auf der sie einst ihre Schulferien verbrachte, nach vier Jahrzehnten wieder besucht. Die Journaleinträge liefern keine Antworten, sie geben aber einen aus vielen Perspektiven genährten Blick auf eine hochkomplexe Region mit einer speziellen historischen "Ladung" frei, die heute als geopolitischer Zankapfel dient.

Was hilft? Manchmal die Literatur, schreibt Olga Martynova, durch deren Texte sich Lektüren und Autorenstimmen ziehen. Etwa die von Joseph Brodsky. Es sei sinnlos, sagte der von den Sowjets ausgebürgerte Nobelpreisträger, Menschen ändern zu wollen. Vielmehr gehe es darum, ihnen "den Zweifel an ihren Positionen einzupflanzen". Das, so Brodsky und Martynova, ist die Aufgabe der Kunst. Immer schon. (Stefan Gmünder, 29.6.2018)