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Nach dem Gewinn des Weltmeistertitels 2014 besuchten Kanzlerin Merkel und der damalige Bundespräsident Joachim Gauck die siegreiche Mannschaft in der Kabine.

Foto: ap/bergmann

STANDARD: Haben Sie das Debakel der deutschen Elf so erwartet?

Seitz: Nein, so nicht. Aber es war bei den ersten beiden Spielen schon absehbar, dass sie sich auf der Rutschbahn nach unten befindet. Der angebliche "Befreiungsschlag" von Toni Kroos beim Spiel gegen Schweden erwies sich bloß als leere Worthülse.

STANDARD: Eigentlich hat der Abstieg des amtierenden Weltmeisters schon viel früher begonnen. Wann war das aus Ihrer Sicht?

Seitz: Den einen Moment gibt es nicht. Aber es war seit längerem jene Selbstherrlichkeit, Bräsigkeit und Übermüdung zu sehen, die man auch in der deutschen Regierung findet. Da gibt es Parallelen. Da wie dort sind größere Erfolge länger her, man ruht sich auf Vergangenem aus: die Regierung auf den guten Wirtschaftsdaten, die Nationalmannschaft auf dem Sieg beim Confed Cup im Herbst 2017.

STANDARD: Wie gravierend war der Auftritt von Mesut Özil und Ilkay Gündogan mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan?

Seitz: Das war der Super-GAU für die Integration. Der Deutsche Fußballbund verfolgte lange Zeit einen fragwürdigen deutschen Sonderweg, aber seit der Jahrtausendwende stand das Bemühen um Integration im Vordergrund, viele Spieler haben Migrationshintergrund, man proklamierte Willkommenskultur. Und dann lassen sich die beiden mit einem Autokraten ablichten.

STANDARD: Das war dann also das Gegenteil vom Sommermärchen?

Seitz: Ja. Aber der Irrtum 2006, als die WM in Deutschland stattgefunden hat, war, zu glauben, dass dieses Happening der Beginn einer neuen Entwicklung sein würde. Die Fankurve wurde weiblicher, Fußball zum Familienereignis. Aber 2006 war leider nur die Ausnahme. Mittlerweile gibt es wieder viel mehr Gewalt in den Stadien, es ist vieles ruppiger geworden. Das gilt ja auch für die Politik, wenn man sich Aussagen der AfD ansieht. Und ich sehe eine tiefgreifende Entfremdung zwischen den Fans und einer abgehobenen Vereinsführung. Auch hier ist eine Parallele zur Politik zu beobachten.

STANDARD: Der DFB und die Fifa punkten auch nicht mit hohen Sympathiewerten.

Seitz: Ich sehe bei beiden viel faulen Zauber. Bei der Fifa weiß man gar nicht, wo man mit der Kritik anfangen soll. Es ist ein schrecklicher Konzern, der sich alles unter den Nagel reißt, sich in seiner Gigantomanie um keine Nachhaltigkeit schert und mit Autokraten wie Putin Deals macht. Fifa-Präsident Gianni Infantino erklärte, er fühle sich im Kreml wie zu Hause. Damit ist alles gesagt.

STANDARD: Wie sehr trägt der Abstieg der einstigen Lichtgestalt Franz Beckenbauer zur Misere in Deutschland bei?

Seitz: Das sollte man nicht zu gering schätzen. Das Sommermärchen 2006 war ein gigantisches Ereignis, über jeden Zweifel erhaben. Dann kamen er und die DFB-Bosse Theo Zwanziger und Wolfgang Niersbach in Verruf, es wurde düster in Fußballdeutschland.

STANDARD: Bundestrainer Jogi Löw, seit 2006 im Amt, scheitert blamabel. Kanzlerin Angela Merkel, seit 2005 im Amt, kämpft ums Überleben. Ist das ein großer Zufall? Oder sehen Sie einen Zusammenhang?

Seitz: Zwischen Fußball und Politik einen Vergleich zu ziehen lag immer schon nahe – erst recht, wenn Bundestagswahlen im Jahr von Weltmeisterschaften stattfanden. Aber so ähnlich war die Lage für Löw und Merkel noch nie, zumal sie sich auch beide nahe sind und die Kanzlerin wirklich etwas von Fußball versteht, ohne in dieser unerträglichen Weise herumzufachsimpeln wie einst Gerhard Schröder und Helmut Kohl.

STANDARD: Fällt Merkel, wenn Löw geht?

Seitz: Beide sind hoch ablösungsbedürftig und haben ihren Zenit überschritten. Es kommen nirgendwo neue Ideen, man verlässt sich auf das Bewährte. Löw setzte auf Spieler, die ihre besten Zeiten hinter sich haben. Auch Merkel bietet keine neuen großen Gedanken außer Wagenburgmentalität. Die Frage ist in beiden Fällen: Wer wird Nachfolger? Es gibt kaum Geeignete, ich fürchte fast, da müssen für den Übergang noch mal Oldies wie Wolfgang Schäuble und Jupp Heynckes ran – als Interimslösung, weil Jüngere abwinken oder noch nicht so weit sind.

STANDARD: An wen denken Sie? An Liverpool-Coach Jürgen Klopp?

Seitz: Klar, der ist im Gespräch. Aber er wird sagen: Was soll ich mit diesen Fußkranken, wenn meine Leute zu Hause in England rennen wie die Hirsche.

STANDARD: Wie lange geben Sie Merkel noch?

Seitz: Das ist schwer zu sagen. Ich kann mir auch vorstellen, dass – sollte Löw seinen Vertrag vorzeitig kündigen – bei Merkel dann ein "Jetzt-erst-recht-Moment" einsetzt, nach dem Motto: Den Löw habt ihr weggekriegt, aber bei mir schafft ihr es nicht. Das würde dann doch wieder aufzeigen, dass Fußball und Politik eben nicht eins zu eins vergleichbar sind.

STANDARD: Immerhin bleibt es Merkel jetzt erspart, nach Russland zu fahren und ein Spiel, womöglich mit Wladimir Putin, anzusehen.

Seitz: Das ist ein positiver Aspekt. Sie wollte sich ja dem Boykott der Briten nicht anschließen. Es will sich eben keiner mit der Fifa anlegen. Und Merkel hat sich in guten Zeiten dem Fußball auch ganz gern angebiedert. (Birgit Baumann, 28.6. 2018)