Musiker und Theoretiker der Improvisation: Christopher Dell.

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Improvisieren? Bei Stadtplanern und Architekten bricht da der Angstschweiß aus. Das muss aber nicht sein, sagt Christopher Dell. Der studierte Musiker und Komponist ist nicht nur preisgekrönter Vibrafonist, sondern auch Professor für Urban Design an der Hafencity-Universität Hamburg. Im STANDARD-Gespräch zwischen einem Vortrag an der TU Wien und einem Vibrafonkonzert am Abend solierte Christopher Dell virtuos über die Stadt als offene Partitur ohne Dirigent, die Wichtigkeit von Übungsräumen und den Raumgenerator Mesut Özil.

STANDARD: Stadt und Musik sind in Ihrem Tun eng verschränkt. Sie haben sich 2008 auf Einladung des Goethe-Instituts mit dem Vibrafon auf die Straßen von Kalkutta gestellt. Wie übersetzt man die Stadt in Musik?

Dell: Mich interessierte, wie sich Musik verräumlicht. Wie wird der Lärm von Kalkutta zum Orchester? Ich musste ganz schön üben, um mich in dieser Geräuschwelt artikulieren zu können. Es ging aber nicht darum, dass ich mit indischen Musikern zusammenspiele. Das ist Weltmusik, das Schlimmste überhaupt! Ich habe nichts dagegen, wenn Künstler, Soziologen und arme Menschen sich weinend in den Armen liegen, aber das interessiert mich nicht. Es geht darum, sich in die Differenz hineinzufräsen.

STANDARD: Wie haben Sie sich in Indien in die Differenz gefräst?

Dell: Die Straßen von Kalkutta haben eine ganz eigene und sehr organisierte Mikroökonomie aus Handwerkern und Dienstleistern. In den 1990er-Jahren sollte das geräumt werden, aber man hat dann gemerkt, dass die Stadt ohne diese Strukturen gar nicht funktioniert. Urbanistisch hochinteressant. Aber wenn ich da von oben herab als Soziologe hineingehe, komme ich an die Leute nicht heran. Also dachte ich: Ich schenke den Leuten etwas. Ich habe mich einfach hingestellt und gespielt. Und ich war sofort mit der Stadt "verschaltet." Weil alle Leute wissen wollten, was ich da mache und wie. Sie haben mich bekocht, und währenddessen haben sie mir über ihren Kampf um den öffentlichen Raum erzählt und Dokumente aus der Schublade gezogen. Diese Informationen hätte ich sonst nie bekommen. Durch das Spielen komme ich in andere Recherchesituationen. Das haben wir auch bei der Entwicklung unseres Studiengangs in Hamburg übernommen: Das Lesen der Stadt ist eine Gestaltungsaufgabe.

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Spiel mit den Räumen auf der Straße: Für Christopher Dell ist die Stadt ein Übungsraum für das entspannte Anerkennen des Fremden – ob in Kalkutta, Paris oder Wien.
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STANDARD: Wie profitiert die Architektur von der Improvisation?

Dell: Immer wenn ich mit Architekten über das Verfahren der Improvisation sprach, meinten sie: Das ist genau das, was wir brauchen. Wir wollen weg vom Objekt und hin zum Prozess. Wir wissen aber nicht, wie wir den Prozess beschreiben können. Ich wiederum wusste aus der Musik, wie Improvisation funktioniert. Aber niemand sprach über dieses Funktionieren. Im Jazzkeller gibt's keine Diskurse, da wird einfach gespielt. Wenn Jazz sich hochpreisig verkauft, wird so getan, als sei alles Magie aus dem Nichts. Genau wie Stararchitektur. Ich nenne extra keine Namen.

STANDARD: Keith Jarrett.

Dell: Zum Beispiel. Joseph Beuys sagte: Klaviervirtuosen sind die Feinde unserer Zeit. Weil sie in ihrer Virtuosität das Verfahren verdecken. Es geht aber darum, das Verfahren offenzulegen, denn so kommen wir auf Augenhöhe. Jeder von uns ist ein Virtuose des Alltags, er kann es nur nicht lesen und denkt, er habe den Plan verfehlt.

STANDARD: Wenn in der Architektur von Improvisation gesprochen wird, meint man meistens: Jemand hat etwas falsch gemacht.

Dell: Das eine ist das planerische Mindset aus Zeiten der Industrialisierung, mit dem man versucht, der Unordnung beizukommen. Gleichzeitig sind im Neoliberalismus die Menschen in eine Zwangsimprovisation entlassen worden. Je mehr den Menschen die Sicherheit entzogen wird, desto mehr verlangen sie danach und denken "Stadt" nur über "Sicherheit". Dann ist man schon auf dem ganz falschen Weg, weil man sich selbst ein Gefängnis baut. Und das wird vom Populismus ausgenutzt.

STANDARD: Was kann man dagegen tun?

Dell: Jeder Musiker weiß, dass Improvisation geschützte Übungsräume braucht. Das Überleben der modernen Demokratie hängt davon ab, dass wir solche Improvisationsräume schaffen, in denen wir lernen, die Differenz, das Fremde in der Stadt einfach zu genießen.

STANDARD: Eines Ihrer Bücher trägt den Namen "Stadt als offene Partitur". Die Seestadt Aspern in Wien hat im Masterplan den Begriff der "Partitur des öffentlichen Raums" eingeführt. Trifft das für Sie den richtigen Ton?

Dell: Das erinnert mich an den Entwurf einer Idealstadt von GMP Architekten, den Meistern der traurigen deutschen Ingenieurswirklichkeit. Dort haben sie die Fenster nach einer Bach-Partitur über die Fassade verteilt. Das ist Quatsch! Ich würde nie sagen, man kann Stadt machen wie Musik. Die Musik, die ich mache, hat aber immer mit räumlichen Konfigurationen zu tun. Ich will, dass es swingt, und es interessiert mich, wie genau es swingt.

STANDARD: Improvisation funktioniert also nur ohne Dirigenten?

Dell: Was nicht heißt, dass alles formlos ist wie beim Free Jazz. Im Gegenteil. Die Form entsteht aus der Aktivität. Und diese Form muss ich lesen und verstehen, während sie läuft. Das ist wie moderner Fußball. Mesut Özil wird immer angekreidet, dass er so lasch herumhängt. Aber nur, weil man ihn nicht lesen kann. Weil er nicht virtuos ist, sondern prozessual denkt und permanent Räume generiert.

STANDARD: Wer sind die Mesut Özils der Architektur?

Dell: Die Architekten Robert Venturi und Denise Scott-Brown haben den Begriff "pattern of activities" geprägt, genau darum geht es. Die Architekten Lacaton & Vassal haben das beispielhaft bei der Renovierung des Tour Bois-le-Prêtre in Paris durchexerziert. Sie haben im Vorfeld mit allen Bewohnern geredet und einen Katalog erstellt. Ich bin sehr zuversichtlich, dass sich diese Improvisation als Technologie durchsetzen wird gegen die dumme Flexibilität, die keiner braucht.

STANDARD: Was ist dumm an der Flexibilität?

Dell: Flexibilität ist Neoliberalismus, der Zwang zur permanenten Anpassung. Man fragt nie, worum es geht, sondern sagt nur: Ja, das kann ich. Das wird aufgeblasen mit so einem lächerlichen Macho-Western-Groove.

STANDARD: Und einem Schuss Selbstverwirklichungsesoterik.

Dell: Ja, alles ist "magic"! Wie die Smart City. Smart City ist wirklich das Letzte. Sie wird aber verkauft wie ein Zauberelixier. Man gewährt Firmen den Eintritt in den letzten Handlungsraum, den wir noch haben, um dort das Geld abzuschöpfen. Hände weg von der Smart City! Hin zur reflexiven Urteilskraft aller! (Maik Novotny, 1.7.2018)