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Ermutigung, das falsche Leben abzubrechen und abzuschaffen: Iso Camartin.

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Iso Camartin, "Die Kunst des Lobens. Zur Rhetorik der Lobrede".€ 43,20 / 328 Seiten. Die Andere Bibliothek, Berlin 2018

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Die politische Rede teilt sich heutzutage im Museum des Vergessens eine Vitrine mit dem Dodo und dem Abtrittanbieter. Alle drei: ausgestorben, nicht mehr vorhanden. Und nicht einmal mit ausgeprägt guter Laune, stabilem Willen und einer extragroßen Lupe ausfindig zu machen. Kein Zufall, dass vor 20 Jahren eine vierbändige Ausgabe mit Reden von Deutschen über Deutschland und aus Deutschland mit dem Jahr 1990 endete. Denn: Wo sind sie nur, die blendenden Reden, die einprägsamen Ansprachen, die mitreißenden Rhetoren?

Dass 2015 Karl-Heinz Göttert ein Buch über den "Mythos Redemacht" veröffentlichte, ist kein Gegenargument. Vielmehr unterstrich das historische Panorama zweieinhalbtausend Jahre langer Redekunst des Professors i. R. für Mediävistik das akute Defizit umso schärfer. Die Rede ist ins Hintertreffen geraten. Das führen etwa Auswahlbände mit Ansprachen Winston Churchills krass vor Augen, die sich jeweils auf mehrere Hundert Seiten summieren. Zufrieden ist man heute mit grammatikalisch schludrigen und denkerisch peinigend unzulänglichen elektronischen Zuwortmeldungen zwischen 140 und maximal 280 Zeichen, gerade einmal ein Churchill-Satz.

Ist eine aktuelle Sammlung von Lobreden also nicht ein Nekrolog auf ein Untergenre der Rede, ein Band des Abschieds und der Nachrufe (die ja Lobreden auch sind)? Der einst von Walter Jens bekleidete Lehrstuhl für Allgemeine Rhetorik an der Universität Tübingen wirbt ja geradezu abschreckend damit, dieser Lehrgang würde "Experten für strategische Kommunikation" ausbilden.

Von Jens, auch ein öffentlicher Intellektueller, stammt das Bonmot: "Herrscht das Volk, dann regiert die Rede; herrscht Despotismus, dann regiert der Trommelwirbel." Ist somit eine Samm- lung von überschwänglichen, beschwingten, espritvollen Lobreden etwas Antiquiertes und Antiquarisches? Im Falle der Elogen Iso Camartins ganz und gar nicht.

Esprit und Equilibristik

Der 1944 geborene Philosoph und Romanist aus Graubünden, bis zum Jahr 1997 ein Jahrzwölft Professor für Rätoromanische Literatur und Kultur an der Eidgenössisch-Technischen Hochschule Zürich, ob gesundheitlicher Einschränkungen frühpensioniert, legte in den letzten 15 Jahren vieles, arg Unterschiedliches vor: ein Buch über die Oper, eines über Freundschaft, den Versuch eines Romans, ein schmales Büchlein über die Freuden des Südens. Von 2000 bis 2003 war Camartin zudem Leiter der Kulturabteilung beim Schweizer Fernsehen DRS und schrieb darüber mit Belvedere. Das schöne Fernsehen ein Bändchen auf Fernsehniveau, also unter seinem eigenen.

Doch all dies verschattet zum Glück nun sein neuer Band mit Elogen aus 25 Jahren; was Brillanz und graziöse Equilibristik angeht, das Beste seit seinen ersten Essaybänden, von denen einer nicht zufällig Karambolagen benannt war. Zusammengeführt sind Reden auf Dichterinnen, Erzähler und Theatermacher, auf Denker, Wissenschafter und Forscher, aber auch auf seinen Verleger Siegfried Unseld, auf den polnischen Papst Johannes Paul II. – eine meisterliche Etüde, die lobend einsetzt und am Ende harscheste Kritik vornehm auftischt –, auf einen Volksmusiker, auf auszuzeichnende Kulturabteilungen, auf langjährige Freunde.

Das Falsche abschaffen

In diesem Lorbeer-Lesebuch, witzig, hochbelesen, arabesk aus der Zeit gefallen, findet sich eine Überfülle an hinreißenden Stellen, die man sich gar nicht traut anzustreichen. Ist es doch ein grafisch fein gestalteter, auf feinem Papier schön gedruckter Band mit irisierendem Einband.

Da liest man etwa davon, dass ein jedes Menschenleben von "einer spezifischen Tonwelt umgeben" und "von einem akustischen Klangregister umfangen" ist. Dass Paul Flora lieber am Katzen- als am Ehrentisch Platz nahm, "weil von dort aus die Welt sich für ihn unauffälliger beobachten ließ". Oder in einer Rede auf Adolf Muschg: "Erwachsen ist eigentlich erst, wer eine Reise absagt, um dafür ein Buch zu lesen."

In seinen Lobpreisungen des Freundes Peter Wapnewski, Altgermanist und Wagner-Enthusiast, lässt sich Camartin schier fortreißen und orgelt durch sprachliche Register, die andere ihr Leben lang niemals entdecken werden.

Er schrieb einmal vor Jahren: "Der Kultur ureigenstes Gelände ist das Schöne, das Schaurige, das Schiefe, das Fromme, das Freche, das Finstere, das Spritzige, das Hundsföttische, das Aberwitzige, das Widersprüchliche." Hiervon findet sich in Die Kunst des Lobens schier alles. Auch wenn zwei Ansprachen, gehalten zu privaten Anlässen, hier öffentlich zu machen sachte indezent anmuten.

Und der kürzeste Text, keine drei Druckseiten lang, eine Laudatio auf Franz Schuh anlässlich einer Preisverleihung 2008, macht deutlich, dass nicht alles und keineswegs jeder dem Schweizer liegt. "Vielleicht", schreibt Camartin in seiner Eloge auf Daniel Cohn-Bendit als Moderator einer Literatursendung, "sind die wichtigen Bücher am Ende doch geschrieben, damit wir, von ihnen dazu ermutigt, das falsche Leben abbrechen und abschaffen." Und Bücher wie dieses anschaffen. (Alexander Kluy, 6.7.2018)