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Proteste beim Auftritt von Facebook-Gründer Mark Zuckerberg im EU-Parlament im Mai. Solchen Kontroversen sind europäische Unternehmen viel weniger ausgesetzt.

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Martin Reeves leitet das New Yorker Büro der Boston Consulting Group (BCG) und denkt über Zukunftstrends nach.

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Achtzehn der zwanzig größten Technologiekonzerne der Welt befinden sich an der US-Westküste oder an Chinas Ostküste – und die Konzentration an den beiden "Goldküsten" nimmt weiter zu, sagt Martin Reeves, Leiter des New Yorker Büros der Boston Consulting Group (BCG). In dem von ihm erstellten "Atlas der digitalen Hegemonie" erscheint Europa in entscheidenden Zukunftsbereichen fast aussichtslos im Rückstand. Und der wachsende Protektionismus, der von den USA und China ausgeht, würde europäische Unternehmen besonders hart treffen, sagt Reeves im Standard-Gespräch.

Doch ganz hoffnungslos sei die Lage für die europäische Industrie und Wirtschaft nicht. "Das Tempo des Wettrennens, die Technologie, bei der es nur einen Gewinner geben kann, die Größe der Konkurrenten, der Trend zu protektionistischen Reaktionen auf ausländische Invasionen – all das sollte Europa Sorgen machen", sagt Reeves. "Aber seine Stärken liegen in der guten Bildung, in der Diversität und der großen Erfahrung mit sozialer Regulierung."

Anpassung statt Entschuldigung

Denn anders als amerikanische Technologiekonzerne wie Google, Facebook oder Amazon hätten europäische Unternehmen gelernt, sich an politische Rahmenbedingungen rechtzeitig anzupassen und nicht erst verspätet um Entschuldigung zu bitten, wenn gemeinschaftliche Interessen verletzt worden seien. Und dies werde in Zukunft von wachsender Bedeutung sein.

Man sei zwar nicht so dynamisch wie Facebook, aber auch nicht so unsensibel gegenüber der öffentlichen Meinung wie Facebook-Chef Mark Zuckerberg. "Wenn es um öffentliches Vertrauen geht, haben die US-Riesen Probleme, da sind die Europäer im Vorteil. Sie wissen, wie man mit politischen Instanzen umgeht." Das zeige sich etwa an der Datenschutz-Grundverordnung, die beim Verhältnis zwischen Unternehmen und Privaten in die richtige Richtung gehe.

Reeves hält hingegen wenig von den Plänen für eine Digitalsteuer, mit denen sich die EU gegen die US-Konzerne wehren will. "Das bringt zwar Einnahmen, hilft aber nicht, eigene Champions entstehen zu lassen", sagt er. "Wichtig ist vor allem, dass Europa nicht weiter zurückfällt, vor allem bei der künstlichen Intelligenz." Denn die AI-Technologien seien für die kommenden Jahre entscheidend für die Wettbewerbsfähigkeit.

Chance Industrie 4.0

Was muss die europäische Politik tun? Digitale Talente und Unternehmertum fördern, Venture-Kapital erleichtern, Exitstrategien für Investoren ermöglichen und digitale Plattformen im öffentlichen Sektor aufbauen, zählt Reeves die notwendigen Maßnahmen auf. "Noch steckt AI in den Kinderschuhen, man muss aufpassen, nicht die gleichen Fehler zu machen wie in der Digitaltechnologie. Damals wurden die meisten europäischen Start-ups von US-Konzernen zu schnell aufgekauft." Diesmal könnte China in der stärksten Position sein, dank eines riesigen Marktes mit großem Bedarf, unzähliger junger Unternehmen und einer zielgerichteten Politik, glaubt Reeves.

Während die Europäer beim E-Commerce von Amerikanern und Chinesen überrollt worden sind, stünden ihre Chancen bei der Industrie 4.0 besser. Hier ginge es nicht nur um Software, sondern auch um Ingenieurskompetenz, wo gerade Deutschland und Österreich stark sind. "Wenn die digitale Revolution sich in die Industrie hineinbewegt, wird die Schnittstelle zwischen Roboter und Menschen entscheidend, und das erfordert eine neue Art der Technik: Wie schafft man die ideale Mensch-Maschine-Maschine?" Künstliche Intelligenz könne immer nur einzelne Produktionsschritte, aber nicht ganze Verarbeitungsprozesse optimieren. Dafür benötige man menschliche Kreativität, Empathie und die Fähigkeit zum kritischen Denken. "Man muss sich nicht nur vorstellen, was passiert, sondern was passieren könnte, und das können Maschinen nicht", sagt Reeves.

Neue Manager gefragt

Diese neue Industrie verlange eine neue Generation von Managern, die mechanische und digitale Technologie verbinden können. Dazu komme die Fähigkeit, auf unvorhersehbare Risiken wie etwa den Brexit vorbereitet zu sein.

"Lieferketten müssen in Zukunft nicht nur effizienz, sondern auch politisch resilient sein", sagt Reeves. Der gebürtige Brite leitet nebenbei auch das Henderson Institute, den Thinktank des weltweit agierenden Beratungsunternehmens, der die großen Wirtschafts- und Technologietrends zu prognostizieren versucht. Er arbeitet derzeit an einem Buch über "das verspielte Unternehmen."

Die wichtigste Überlebensstrategie für Unternehmen ist laut Reeves die Fähigkeit, nicht alles auf eine Karte zu setzen, sondern sich auf verschiedenste Szenarien vorzubereiten. "Wir brauchen heute zumindest drei Lösungen für jedes Problem, denn wir wissen nicht, wie sich die Dinge entwickeln. Unternehmen müssen zwei Geschäftsmodelle parallel laufen lassen, das alte und ein völlig neues. Sie müssen weiterlaufen und sich dabei neu erfinden."(Eric Frey, 30.6.2018)