"Eine echte Gefahr" – dieses Fazit ziehen viele Menschen aus den Debatten über Desinformation, Manipulation und Verunglimpfungen, die sich zu Hassreden steigern. Sie fühlen sich verunsichert. Weltweit. Vielerorts schütten vor allem Politiker noch Öl ins Feuer. Wir müssen unser Rückgrat trainieren und uns bewusst machen, dass verantwortungsvolles Kommunizieren eine Kulturtechnik ist, so wichtig wie Schreiben, Lesen oder Rechnen. Wir können an vielen Hebeln ansetzen, um uns nicht nur zu einer redaktionellen, sondern zu einer verantwortungskompetenten Gesellschaft zu entwickeln.

Hartleys "kommunikativen Demokratie"

Der australische Kommunikationswissenschafter John Hartley entwickelte vor rund zwei Jahrzehnten wohl als Erster die Utopie einer "redaktionellen Gesellschaft" und beschrieb sie als Teil einer "kommunikativen Demokratie". Manche Forscher griffen seine Idee auf, und Wikipedia-Gründer Jimmy Wales begründete vergangenen Sommer mit ihr sein Projekt Wikitribune, eine neue Internet-Nachrichtenplattform, an der jeder mitschreiben kann: "Fake News" habe die Nachrichten "kaputtgemacht", und Wikitribune sei ein Weg, um sie zu reparieren. Ähnliches haben auch andere versucht – zum Beispiel Ebay-Gründer Pierre Omidyar 2010 mit dem Projekt "Peer News", das er aber wieder einstellte. Die Zeiten sind zwar heute unbestritten andere. Es ist aber gar nicht vorrangig, aus möglichst vielen Menschen Journalisten zu machen, die kontinuierlich Nachrichten verfassen. Ziel eines jeden muss sein, verantwortlich zu kommunizieren.

Vier Hebel

Das bedeutet erstens, dass jeder, der publiziert, lernt wie ihm dies so gelingt, dass er auch für die Folgen seines Tuns geradestehen kann. Zweitens muss in einer digitalen Gesellschaft jeder zumindest grob einschätzen lernen, wann er Nachrichten und deren Quellen trauen kann. Und drittens muss er Werkzeuge kennen, mit denen er sich gegen Hassrede wehren und auch anderen Betroffenen helfen kann. Kurzum: Verantwortlich zu kommunizieren ist eine Kulturtechnik. Sie ist ähnlich wichtig wie Lesen, Schreiben und Rechnen und sie muss ebenfalls geschult werden. Digitale Techniken lösten das alles nicht aus; sie machen lediglich deutlich, wie dringend wir uns nicht nur in eine redaktionelle, sondern in eine verantwortungskompetent kommunizierende Gesellschaft weiterentwickeln müssen. Vier Hebel sind wegleitend.

1. Publikationskodex für das Publikum

Ein erster und recht einfacher Schritt wäre, auf der Grundlage vorhandener Pressekodizes einen Publikationskodex für das Publikum zu formulieren. Hierin würden freilich die berufsspezifischen Richtlinien weggelassen, zum Beispiel die Trennung von Werbeabteilung und Redaktion. Übernommen würden Richtlinien, wie man mit Inhalten und Personen umgehen sollte. Ein Beispiel: Wer weiß, welche Folgen es für Suizidgefährdete haben könnte, Selbstmorde sehr detailliert zu schildern, wird zurückhaltender werden. Ebenso müssten Richtlinien in Bezug auf Wahrhaftigkeit, Achtung der Menschenwürde, sorgfältige Gegenprüfung, ob etwas, das man verbreiten will, auch stimmt, Rücksicht auf Schutzbedürfnisse (Persönlichkeit und Ehre, Kinder und Jugendliche, Diskriminierung), Achtung der Unschuldsvermutung, Sensibilität bei Gesundheitsthemen eingezogen werden. Zu ergänzen wäre, was verbunden mit digitalen Techniken zu beachten ist, zum Beispiel wenn man in Echtzeit streamt. So ließe sich unterm Strich eine konkrete und praktische Handlungsrichtlinie bereitstellen, die jedem hilft, im Netz professioneller – genauer: verantwortungsbewusst und verantwortungskompetent – zu veröffentlichen.

2. Gute Publikumsbeziehungen als Bollwerk gegen "Fake"

Verantwortungskompetenz kann auch bei einem Problem helfen, das weltweit das Publikum umtreibt: Fast 60 Prozent der Menschen fürchten, "Fake" auf den Leim zu gehen und Falschinformationen aufzusitzen, belegt der Digital News Report des Reuters-Instituts der Universität Oxford.

"Fake" bedeutet eigentlich, andere arglistig zu täuschen und zu manipulieren. Doch insbesondere populistisch orientierte Politiker schürten diese Verunsicherung weiter, indem sie den Begriff "Fake" auf klassischen Journalismus übertrugen, um damit diesen Beruf als solchen zu diskreditieren und journalistischer Kritik an ihrer Politik das Wasser abzugraben. FPÖ-Parteichef Heinz-Christian Strache musste sich zwar für seine Unterstellung entschuldigen, dass der ORF und deren Anchorman Armin Wolf lügen würden; und der deutsche Innenminister Horst Seehofer wurde heftig kritisiert für seine Behauptung, in Deutschland produzierten Medien so viel "Fake" wie sonst nirgendwo.

Aber die Strategie, Medien in die Nähe von "Fake" zu rücken, geht offenbar auf: Vier von zehn Befragten im Reuters-Report sortieren auch Clickbait, also auf möglichst hohe Reichweiten optimierte Textdramaturgien, sowie irrtümliche Fehler von Journalisten nun als "Fake" ein. Glaubwürdigkeitsattacken auf Medien kommen zum Beispiel auch von unternehmerischer Seite. Tesla-Gründer Elon Musk ärgerten kritische Berichte über seine Fahrzeuge. Statt sich auf der Sachebene damit auseinanderzusetzen, will er ein Portal gründen, auf dem Nutzer den Wahrheitsgehalt journalistischer Arbeit bewerten sollen, und sie quasi benutzen, um das Vertrauen in die gesellschaftliche Kritik- und Kontrollfunktion von Medien in demokratischen Gesellschaften auszuhebeln.

Tatsächlich jedoch bringt gegenwärtig die "Fake"-Verunsicherung nachweislich die Mehrheit der Nutzer dazu, sozialen Medien immer weniger zu trauen. Sie wollen sich an klassischen Medien orientieren, sind aber zugleich skeptisch: Jeder Dritte in Deutschland nimmt die gesellschaftlichen Zustände selbst anders wahr, als diese in den Medien dargestellt werden, jeder Vierte hat den Eindruck, dass Medien nicht die Themen aufgreifen, die ihm wichtig sind, und jeder Fünfte das Gefühl, Medien hätten den Kontakt zur gesellschaftlichen Wirklichkeit verloren.

Nutzer wollen sich an klassischen Medien orientieren, begegnen ihnen aber auch skeptisch.
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Das legt den Finger in eine bekannte Wunde: Viele Journalisten vergessen, wie wichtig es ist, auch in andere Gegenden und Milieus vorzudringen als die ihnen bereits bekannten. Die Skepsis des Publikums muss heute mehr denn je Journalisten aufrütteln, sie müssen dringend ihren Vertrauensvorsprung verlängern, indem sie ihr Verhältnis zum Publikum verbessern und sich auf ihre soziale und integrative Funktion besinnen: offen sein für andere Ansichten, in neue Themen eintauchen, Sorgen und Nöten verschiedener Gesellschaftsschichten eine mediale Stimme geben. Zu guten Beziehungen gehört auch, die Verantwortungs- und Publikationskompetenz des Publikums zu stärken und zu erklären, wie Medien funktionieren, was sie leisten sollen, warum man Journalismus braucht – und wie man prüft, ob eine Information plausibel ist.

3. Lob als Lohn für Kommunikationskompetenz und Beistand

Verantwortungskompetenz umfasst auch, dass wir bereit sind, dagegenzuhalten, wenn wir selber oder andere fies behandelt werden. Soziale Medien funktionieren einerseits als Emotionsmedien, wo deshalb gerade Hass und Gemeinheiten rasch und oft geteilt werden. Andererseits sind sie Beziehungs- und Vernetzungsmedien: Nutzer fühlen sich belohnt, wenn sie sich anerkannt und unter Gleichgesinnten fühlen. Lob kann daher zu einem wirkungsvollen Mittel gegen Hass werden: Lob für alle, die selbst verantwortungsbewusst posten und liken. Und vor allem Lob für alle, die jenen helfen, die extrem angepöbelt werden. Sie sollten fürchten müssen, selbst ausgegrenzt zu werden, sondern darauf zählen dürfen, für ihren Beistand hochanerkannt zu werden.

Zudem ist nützlich zu wissen, wo es Unterstützung gibt. Die Forscherinnen Diana Rieger und Hanna Gleiß wiesen bei einer Fachtagung auf diverse Initiativen hin – darunter: Nettz, Bell Tower, #ichbinhier – weitere Quellen finden Sie am Ende dieses Textes. Sie empfehlen eine differenzierte Haltung: Humor oder Sarkasmus sind kontraproduktiv, erst recht Hinweise auf Rechtschreib- oder Kommafehler. Ihr Rat: auf Augenhöhe aktiv dagegenhalten; nur Ignorieren oder nur Löschen reiche nicht. Ist etwas strafrechtlich relevant, dann muss der Sünder möglichst konsequent angezeigt werden. Weil nicht so einfach zu erkennen ist, wo die rechtlich roten Linien verlaufen, wurden bereits in einigen deutschen Bundesländern Meldestellen eingerichtet. Dort kann jeder Veröffentlichungen melden, die er für unzulässig hält. Experten prüfen, ob das tatsächlich gesetzlich verboten ist, und leiten weitere Schritte ein: Sind es strafbare Einträge auf sozialen Medien, die den Tatbestand der Volksverhetzung, Beleidigung, üblen Nachrede oder Verleumdung erfüllen, fordern sie die Plattformbetreiber zur Löschung auf, zeigen Fälle von Volksverhetzung an und helfen Betroffenen dabei, Anzeigen wegen Beleidigung, übler Nachrede und Verleumdungen zu erstatten.

4. Digitalrat als Anlaufstelle

Jeder kann also sofort und an vielen Hebeln anpacken. Dennoch wäre eine Bündelung hilfreich, also eine zentrale Anlaufstelle, die sich als Beobachterin, Diskursforum und Beschwerdeinstanz um Themen kümmert, die sich durch die Digitalisierung stellen. Dies könnte zum Beispiel ein als Selbstregulierungseinrichtung und Expertengremium strukturierter, unabhängiger Digitalrat sein, der flexible Arbeitsgruppen einrichtet und sich auch grundsätzlicher Aufgaben annimmt wie zum Beispiel dem Erstellen eines Publikationskodexes. (Marlis Prinzing, 5.7.2018)