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Regisseurin Lucrecia Martel: "Wie können wir also einer Geschichtsschreibung aus der Feder der Mächtigen trauen? Diese Frage sollte uns auch in der Gegenwart beschäftigen."

Foto: AP / Domenico Stinellis

Lucrecia Martel ist eine eigensinnige Frau. Das liegt nicht nur an der Zigarre, die die 51-jährige Argentinierin während des Interviews genüsslich pafft. Von der Filmindustrie etwa hält sie wenig bis gar nichts. Wenn sie zwischen zwei Filmen zehn Jahre verstreichen lässt, braucht Martel, die seit ihren vielfach ausgezeichneten Arbeiten wie La Ciénaga (2001) und La niña santa (2004) zu den wichtigsten Vertreterinnen des internationalen Autorenfilms zählt, dafür keinen Grund. Gleichzeitig weiß sie sehr genau, dass ihre jüngste Arbeit mit großer Spannung erwartet wird. Tatsächlich übertrifft die Romanverfilmung Zama, 2017 in Venedig präsentiert, noch die Erwartungen: Die Geschichte des Don Diego de Zama, eines Kolonialbeamten, der in einem Küstenort auf seine Versetzung wartet, wird bei Martel zur so verstörenden wie existenzialistischen Odyssee. Ein südamerikanisches Herz der Finsternis.

In "Zama" wird die Odyssee eines Kolonialbeamten pures Kino.
Foto: Filmgarten

STANDARD: "Zama" ist Ihr erster Spielfilm seit zehn Jahren. Wie kam es zu dieser langen Pause?

Martel: Ich weiß nicht, woher die Vorstellung kommt, dass man alle zwei oder drei Jahre einen neuen Film drehen muss. Das ist ein Rhythmus, der ausschließlich den Interessen des Marktes geschuldet ist. Niemand ist in regelmäßigen Abständen kreativ und kann diese Kreativität pünktlich zum Ausdruck bringen. Ich nehme mir Zeit für die unterschiedlichen Lebensbereiche und Interessen: Das kann, muss aber nicht Filmemachen sein. Eigentlich sollte man diese Leute bestrafen, die ständig Filme drehen und im Grunde nichts zu erzählen haben. Es gibt Länder, in denen nur deshalb so viele Filme produziert werden, weil dort das Geld zur Verfügung steht – aber nicht, weil es dort so viel Talent gäbe. Vielmehr kommen aus wenigen Länder mit viel Geld entsprechend viele Filme.

STANDARD: Ihr Film basiert auf dem 1956 veröffentlichten Roman des argentinischen Schriftstellers Antonio di Benedetto, der im späten 18. Jahrhundert angesiedelt ist: Sie unternehmen somit eine zweifache Reise in die Vergangenheit: in die Kolonialzeit Südamerikas und ins Argentinien der 1950er-Jahre.

Martel: Richtig. Es ging mir aber auch darum, meine Gegenwart zu entdecken. So wie Benedetto das für seine Zeit tat. Sein Roman erschien ein Jahr nach Pérons Sturz, aber die Idee hinter der Erzählung ist universell: das Verhältnis von Individuum und Macht. Benedetto erzählt von Zama als einem Diener der spanischen Krone in Südamerika und davon, wie dieser Mann sich der ihm fremden Umgebung anzupassen versucht – beziehungweise versucht, diese seinen Bedürfnissen anzupassen. Doch geschrieben haben die Geschichte der Begegnung von Alter und Neuer Welt jene, die den Sieg davontrugen. Wie können wir also einer Geschichtsschreibung aus der Feder der Mächtigen trauen? Diese Frage sollte uns auch in der Gegenwart beschäftigen.

STANDARD: Wenn Geschichte von den Siegern geschrieben wird, führt das natürlich zu Misstrauen. Das kann aber wiederum schnell dazu führen, dass man Antworten findet, die trotzdem falsch sind.

Martel: Mir ging es darum, sich ein anderes historisches Szenario auszumalen. Sich wie Benedetto diese Möglichkeit einfach herauszunehmen. Um von der Vergangenheit zu erzählen, bedarf es gleich viel Vorstellungskraft wie für die Zukunft. Aber auch den nötigen Respekt vor der Vergangenheit, weil wir wissen, dass sie von Menschen geschrieben und kons truiert wurde. Und bisweilen genauso erfunden wie die Zukunft.

STANDARD: Dieser Fiktion begegnen Sie mit einer haptischen Form von Realismus, die an Werner Herzogs "Aguirre, der Zorn Gottes" erinnert, in dem Klaus Kinski dem Wahnsinn verfällt. Als könnte man Kostüme und Bauten angreifen, wenn man nur den Arm ausstreckte.

Martel: Auf keinen Fall sollte Zama wie ein Kostümfilm aussehen. Das haben mein portugiesischer Kameramann Rui Poças und ich bereits vorab festgelegt. Es war uns wichtig, über die Materialien die Gegenwärtigkeit dieser Geschichte spürbar zu machen.

Der Sound bestimmt die Atmosphäre: Trailer zu "Zama" (OmdU)
Filmgarten

STANDARD: Sie schenken auch dem Ton auffallend große Aufmerksamkeit: Man meint jedes Zirpen in der Landschaft zu erlauschen. Kann man Geschichte auch hören?

Martel: Der Sound eines Films bestimmt seine Atmosphäre. Wenn Sie im Kino sitzen, können Sie die Augen schließen, aber Sie werden immer alle Geräusche und Stimmen vernehmen. Wenn man dieses Potenzial nicht ausnützt, versäumt man die Möglichkeit, den Zuschauer komplett in den Film hineinzuversetzen. Wenn Sie etwa sagen, diese oder jene Szene sei stumm, dann meinen Sie wahrscheinlich, dass es keinen Dialog gibt. Aber plötzlich hören Sie umso deutlicher das Vogelgezwitscher. Man kann also mit dem Ton wunderbar die Erwartungshaltung brechen und Spannung aufbauen. In einem Film wie Zama, bei dem die Handlung unwichtig ist – weil es nämlich keine Rolle spielt, wer der Mörder ist oder ob sich eine Liebesbeziehung anbahnt –, muss man anderweitig Spannung erzeugen. Die Möglichkeiten dafür sind vielfältig!

STANDARD: "Zama" stellt die Frage nach der menschlichen Existenz angesichts seines eigenen Scheiterns. Man hat das Gefühl, dass über Don Diego de Zama, der dieses Scheitern personifiziert, von Anfang an der Tod schwebt.

Martel: Ich vermeide grundsätzlich Symbolik und Metaphorik in meinen Filmen. Aber ich weiß, was Sie meinen: Was man als Zeichen des Todes wahrnimmt, ist seinem erwarteten Ende geschuldet. Der Roman erzählt vom Warten und vom Scheitern, mein Film von der Identität als Gefängnis, aus dem es kein Entkommen gibt.

STANDARD: Betrifft das auch die nationale Identität Ihrer Heimat?

Martel: Sicher. Als Argentinierin habe ich verschiedene Wurzeln, neben den spanischen auch indigene, obwohl das viele Argentinier für sich nicht akzeptieren wollen. Aber das ist das Schöne, dass unsere Identität eine Mischung unterschiedlicher Kulturen ist. Worum geht es, wenn man nur eine einzige Identität verteidigt und Mauern gegenüber anderen Kulturen und Einflüssen hochzieht? Um Angst. Denn Identität ist etwas Wandelbares, sie ist nicht bestimmt.

STANDARD: Wovor hat Zama Angst?

Martel: Davor, jemand Bestimmter zu sein. Zama ist vom spanischen König eingesetzt und hat eine Rolle übernommen, die ihm alles vorschreibt, was er zu tun hat. Aber seine Identität ist nicht vorbestimmt, sie beginnt sich im Laufe seines Aufenthalts zu ändern. Zama erzählt von der Möglichkeit der Selbstfindung, die mit jedem Tag aufs Neue beginnt. (Michael Pekler, 3.7.2018)