Jean-Claude Juncker verpackt leise Kritik gerne in optimistische Töne. So auch im Gespräch mit österreichischen Journalisten am Montagabend.

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Wenn Jean-Claude Juncker Auftreten und plakative Aussagen von nationalen Regierungen zur EU-Politik lobt, ist Vorsicht angesagt. Der Kommissionspräsident flüstert fast beim Sprechen. Er ist ein Mann der leisen Töne. Vor allem aber ein Meister der Zwischentöne, der allzu grobe Vereinfachungen bei der Darstellung der europäischen Zusammenhänge so wenig schätzt wie die Selbstdarstellung nationaler Akteure, wenn sie sich als Gegenspieler der Gemeinschaft positionieren. Kritische Bemerkungen dazu verpackt er mit Vorliebe in Ironie.

So war das auch am Montag am Vorabend der Antrittsrede von Bundeskanzler Sebastian Kurz vor dem Plenum des Europäischen Parlaments in Straßburg. Juncker empfängt eine Gruppe österreichischer Journalisten, um das Programm und die Erwartungen des österreichischen EU-Vorsitzes bis Jahresende zu erläutern. "Das Leitmotiv passt mir", bemerkt er gleich als Erstes zum Motto "Ein Europa, das schützt", das die Regierung sich gegeben hat.

Juncker sieht Themen als seine eigenen

Genauso sei das mit der Forderung nach mehr "Subsidiarität", die der Kanzler und die Minister bei praktisch allen Erklärungen zu ihren EU-Vorhaben ins Treffen führen: Die EU solle sich nur um "die großen Dinge" kümmern, die Nationalstaaten aber um die vielen "kleinen Dinge" bei der Umsetzung der Politik direkt bei den Bürgern. In der Wiener Tonart wird das gerne übersetzt mit der Formel, die EU solle sich nicht überall einmischen, sie müsse gestutzt werden, weil es letztlich die Nationalstaaten und ihre Regierungschefs sein müssten, die die Entscheidungen für "die Völker" treffen würden.

Juncker bemerkt dazu, dass all dies "keine Erfindung des Moments" sei, nicht wirklich originell und auch nicht neu. Das Thema des Ausbaus der Sicherheit in Europa, des Schutzes der EU-Außengrenzen, das sei "eine der Prioritäten bei meiner Antrittsrede im Europäischen Parlament im Jahr 2014 gewesen", erklärt er. Das kann man nachlesen.

Dasselbe gelte für die Forderung, dass die EU effizienter werden müsse. Selten werde dazugesagt, dass gerade seine Kommission, "die Regulierungswut, die man meist zu Recht beklagt, nach unten korrigiert hat". So kämen in seiner Kommission nurmehr 20 bis 22 neue Initiativen jährlich anstatt 120 bis 130 wie früher. "Wir haben viele Rechtsakte geprüft und 51 zurückgezogen.

Wien soll nicht spalten

Die Botschaft des Kommissionspräsidenten ist klar und deutlich. Die österreichische Regierung wäre gut beraten, "das, was sie in zwei vorangegangenen EU-Vorsitzen bereits bewiesen hat", auch diesmal zu tun: nicht spalten, sondern sich mit dem profilieren, was man in Österreich besonders gut könne "als Land des Kompromisses, des Austarierens zwischen den Bundesländern und der Bundesregierung, mit den Nachbarn wie Bayern oder Südtirol".

Das gelte ganz besonders beim Thema Migration. Juncker hofft "und wünscht", dass es bis Jahresende gelingt, eine Reform der gemeinsamen EU-Asylregeln unter Dach und Fach zu bringen. Nur mit einem einheitlichen Verfahren für Asylwerber könne gelingen, was praktisch alle vorgeben erreichen zu wollen: "die Trennung von reinen Wirtschaftsmigranten von jenen, die als Flüchtlinge unseren Schutz brauchen". Bisher sei das an der Uneinigkeit im Ministerrat gescheitert, nicht gelungen.

Der Kommissionspräsident bekennt sich dazu, dass Europa, "der beste Platz der Welt zum Leben", nicht die halbe Welt aufnehmen könne. Auch er unterstütze, dass man illegale Migration zurückdrängen müsse, aber: Die Grenze des Vorgehens sei dort erreicht, wo es darum gehe, "die Würde des Menschen in ihrem vollen Umfang" zu wahren, sie gelte für alle, egal welcher Hautfarbe, Religion oder Herkunft. Jeder Mensch habe das Recht, dass in einem ordentlichen Asylverfahren geprüft werde, ob es Gründe gebe für Schutz. Das ist Junckers absolute Benchmark.

Ärger in Migrationsfragen

Richtig verärgert ist er über die Darstellung, dass es die Kommission gewesen sei, die in der Migrationskrise beim Außengrenzschutz gebremst habe. "Da erklingt jetzt überall der Schlachtruf. Aber was haben die Regierungen getan? Einige sagen, drei Jahre ist nur geredet worden und nichts ist passiert. Das stimmt nicht. Wir haben Italien, Griechenland unterstützt, Hotspots ausgebaut und das EU-Türkei-Abkommen abgeschlossen", zählt der Präsident auf.

Italien habe aus EU-Mitteln zusätzlich vier Milliarden Euro erhalten, um besser mit dem Migrationsproblem umgehen zu können, Griechenland 2,8 Milliarden Euro. Zusätzlich würden nationale Maßnahmen nicht in die Vorgaben des Eurostabilitätspaktes eingerechnet. Immerhin seien seit 2015 95 Prozent weniger Flüchtlinge aus der Türkei nach Europa gekommen. Sein Appell: "Ich bitte doch um nüchterne Betrachtung dessen, was erreicht wurde."

Klagen über nationale Untätigkeit

Ein anderes Beispiel: Bereits sein Vorgänger José Manuel Barroso habe 2008 und 2013 noch mal einen integralen europäischen Außengrenzschutz vorgeschlagen. "Was haben die Regierungen damit gemacht?", fragt Juncker, um die Antwort gleich selbst zu liefern: "Damals gab es im Vergleich zu 2015 nur mickrige Flüchtlingszahlen. Man hat damals so getan, als ob die Kommission wieder mehr Kompetenzen an sich ziehen wolle, um sich den Grenzschutz zu eigen zu machen, gegen die Nationalstaaten." Diejenigen, die heute klagen, seien damals besonders stark gegen die Pläne aufgetreten, "die Deutschen, vorwiegend aus Bayern und Baden-Württemberg, und auch die Österreicher". Man könnte die Kritik gegen die Kommission "auch mal umdrehen, dann sähen einige sehr schlecht aus".

Daher solle man auch heute genau hinschauen, wenn es – wie zuletzt beim EU-Gipfel – wieder Beschlüsse zur besseren Handhabung der Migrationsprobleme gebe. Das gelte konkret bei den geplanten "Ausschiffungsplattformen" in Staaten außerhalb der Union, in Afrika. "Man wird im Detail prüfen müssen, ob dort auch Asylanträge gestellt werden können", erklärt Juncker, die Regierungschefs hätten das offen gelassen, und er habe vernommen, dass Kanzler Kurz es ablehne, dass in nordafrikanischen Lagern Asylverfahren stattfinden sollten. Es gebe eine Innenministersitzung nächste Woche, wo dieses Thema behandelt werde, "die ist sehr wichtig".

Warnung vor neokolonialistischem Reflex

Mit den Begriffen, die man für die Lager bisher gefunden habe, zeigt sich der Präsident nicht zufrieden, auch nicht mit "Anlandungsplattformen". Er verwendet lieber "Aufnahmelager". Gleichzeitig gibt er zu bedenken, dass mit solchen Lagern nicht ein "neokolonialistischer Grundreflex" in den Staaten, die die Europäer in Afrika um Kooperation bitten wollen, ausgelöst werden dürfe in der Art "Wir könnten den afrikanischen Partnern vorschreiben, was sie tun könnten". Es gehe hier um gesonderte Abmachungen mit den nordafrikanischen Ländern. "Ich bin sehr dagegen, dass von Brüssel diktiert wird, was in Afrika passiert", warnte Juncker. Es werde auch weniger an Österreich im EU-Vorsitz liegen, diese Gespräche zu führen, sondern an EU-Staaten, die über besondere Erfahrungen und Beziehungen zu Afrika verfügen. Er meint Frankreich.

Was die Brexit-Verhandlungen betrifft, sieht sich Juncker realistisch statt optimistisch. Er bestätigt, dass die Kommission auch "ein No-Deal-Szenario ins Auge fasst und sich darauf vorbereitet". Es könne also sein, dass es einen echten harten Brexit gebe, ohne Regelungen. Daher habe er die 27 Mitgliedstaaten vor Einzelvereinbarungen mit Großbritannien gewarnt, so Juncker. "Brexit means Brexit. Wer austritt, hat nicht das Recht, einen größeren Fuß in der Tür zu behalten, als der Fuß, den er nach hinten streckt." Die britische Premierministerin habe für Juli ein Weißbuch angekündigt, "es klingt nach einem Kompromisspapier in der britischen Regierung mit 200 Seiten". Sprich: Es werde wohl noch mehr Fragen aufwerfen als bisher.

Zukunft statt Brexit

Generell sei ihm ein geordneter Austritt der Briten das Liebste. "Das müssen wir bis Oktober, November des Jahres leisten." Entscheidend sei die Lösung des irisch-nordirischen Grenzproblems. "Ich hätte gerne das Problem gelöst, bevor wir uns zukunftskräftigeren Themen zuwenden", so Juncker.

Eine Einigung über den mehrjährigen EU-Finanzrahmen für die Jahre 2021 bis 2027 wünsche er sich vor den Europawahlen 2019. "Wenn wir nicht am 1. Jänner 2021 startklar sind, verlieren wir viele Forschungsstellen und hunderttausende Erasmus-Plätze." Das mache keinen Sinn.

Laute Schreie nach Wiener Schnitzel

Was erwartet der Kommissionspräsident von Kanzler Kurz persönlich? "Dass er Ernst macht mit dem Satz, dass Österreich immer die Vermittlerrolle und Brückenbauer gespielt hat." Er "traue ihm das auch zu. Er weiß auch, dass auf dem Kompromissteller nicht nur Wiener Schnitzel liegen. Ich bin ein großer Fan von Wiener Schnitzel, überall schreie ich laut danach, aber am besten sind sie in Wien. Es ist aber zu wenig, wenn es immer nur Wiener Schnitzel gibt." Soll wohl heißen: Die europäische Speisekarte ist deutlich vielfältiger als die nationalen österreichischen Wünsche.

Kurz gehöre "zu den neuen Talenten in Europa, die braucht man", sagt Juncker, und er ist optimistisch, dass Österreich eine sehr gute Arbeit für die Gemeinschaft leisten werde: "Wir schaffen das schon. Ich bin da zuversichtlich. Es wird nicht einfach, aufgrund früherer Einlassungen von einigen" – eine Anspielung auf die FPÖ. Aber: "Am Ende des Tages ist Österreich im Vorsitz immer ein dienender Faktor für die Heimat Europa gewesen", meint der Präsident: Der österreichischen Regierung wünscht der Kommissionspräsident jedenfalls "guten Schlaf – und hellwach sein".

Forderung nach Fraktionswechsel der FPÖ

Und die FPÖ? Nicht zuletzt bezieht er klar Stellung, wie er die FPÖ bezüglich ihrer EU-Haltung einschätzt und die ÖVP daneben: "Für mich gibt es da zwischen den Rechten und Österreichs Bundeskanzler mehr als Nuancen, es gibt Unterschiede." Von der FPÖ wünscht sich Juncker, dass sie aus der Fraktion Europa der Nationen und der Freiheit (ENF) austritt, die im EU-Parlament als Sammelbecken extrem rechter Parteien und Rechtspopulisten isoliert ist. Das habe er FPÖ-Chef beim letzten Treffen in Brüssel bei "einem guten Gespräch" auch persönlich gesagt.

Dies sei aber nicht seine Entscheidung. "Es liegt nicht an mir, Herrn Strache eine Empfehlung zu machen. Die FPÖ ist, wie sie ist. Für mich gehört sie nicht in diese Rubrik" mit Matteo Salvini von der italienischen Lega in Italien und Marine Le Pen vom Front National, der sich jetzt Rassemblement National nennt. Mehr Lob und Appell ist aus dem Mund des Kommissionspräsidenten, der sich im EU-Parlament mit den EU-Skeptikern in der Regel scharfe Wortgefechte liefert, kaum möglich. (Thomas Mayer aus Straßburg, 3.7.2018)