Mainz – Der Speiseplan von Neandertalern lässt sich heute mit verschiedenen Methoden einigermaßen genau rekonstruieren: Funde von Beuteüberresten sowie Zahn- und Kollagenuntersuchungen lassen wenig Zweifel daran, dass unser nächster ausgestorbener Verwandter eine sehr fleischlastige Diät bevorzugte. Pflanzliche Kost machte dagegen laut jüngsten Untersuchungen nur etwa 20 Prozent der Gesamternährung aus.

Wie die Neandertaler allerdings an ihre Fleischmahlzeiten kamen – sprich: wie genau ihre Jagdtechnik ausgesehen hat – ist nach wie vor Gegenstand von Spekulationen. Wertvolle Hinweise zur Klärung dieser spannenden Frage haben nun internationale Wissenschafter anhand der ältesten, unzweifelhaften Jagdverletzungen der Menschheitsgeschichte gewonnen. Die verräterischen Spuren fanden sich an zwei Skeletten großer ausgestorbener Damhirsche, die Neandertaler vor rund 120.000 Jahren an einem kleinen See in der Nähe der heutigen Stadt Halle im Osten Deutschlands erlegten.

Experimente ergaben, dass der Speeresstoß das Tier von schräg unten traf.
Illustration: Eduard Pop, MONREPOS

Die im Fachjournal "Nature Ecology & Evolution" vorgestellten Analysen und archäologischen Experimente des Teams um Sabine Gaudzinski-Windheuser von der Universität Mainz liefern nicht nur aktuelle Erkenntnisse darüber, wie sich der Neandertaler in seiner Umwelt eingegliedert hat, sondern zeigen auch, wie und mit welcher Jagdausrüstung er seine Beute erlegte.

Mikro-CT-Scans der Jagdverletzung im Becken des Damhirsches zeigen die Verletzung an der Austrittsstelle und das rekonstruierte spitze Objekt, ein Speer, das die Perforation verursacht hat.
Illustr.: Arne Jacob & Frieder Enzmann, JGU

Konkret lassen die Verletzungen an den Damhirschen den Schluss zu, dass die urzeitlichen Jäger dem Tier mit einem hölzernen Speer in Aufwärtsbewegung den Todesstoß versetzt haben, und zwar mit verhältnismäßig geringer Geschwindigkeit. Der von den Forschern eingesetzte ballistische Versuchsaufbau – unterstützt von modernster Bewegungssensorik – ergab demnach, dass sich Neandertaler zumindest in diesem Fall den Tieren bis auf sehr kurze Distanz näherten und den Speer als Stoß- und nicht als Wurfwaffe verwendeten. Eine solche konfrontative Art der Jagd erforderte sorgfältige Planung, Tarnung sowie ein enges Zusammenspiel zwischen den einzelnen Jägern.

Vorder- und Rückansicht der Verletzung eines ausgestorbenen Damhirsches, der vor 120.000 Jahren von Neandertalern an einem Seeufer nahe der heutigen Stadt Halle getötet wurde.
Foto: Eduard Pop, MONREPOS

Der See, an dem die Jagden stattfanden, war von geschlossenen Wäldern umgeben – eine Umwelt, die für Jäger und Sammler auch heute noch eine besondere Herausforderung darstellt. Dennoch brachten die Ausgrabungen in der damaligen Seenlandschaft in Neumark-Nord zehntausende Knochen großer Säugetiere, darunter Rot- und Damhirsche, Pferde und Wildrinder, zutage sowie tausende Steinartefakte. Diese reichen Funde sprechen für sehr erfolgreiche Jagd- und Überlebensstrategien des Neandertalers in bewaldeten Umwelten.

"Unsere Vorfahren haben sicherlich bereits vor mehr als einer halben Million Jahren mit der Waffenjagd begonnen", sagt Gaudzinski-Windheuser. "Aber erst jetzt haben wir Nachweise zu der Handhabung von hölzernen speerartigen Objekten." Solche Waffen wurden im vergangenen Jahrhundert in Clacton in Großbritannien sowie an den deutschen Fundorten in Schöningen und Lehringen entdeckt. Bislang fehlten Nachweise zur Handhabung, obwohl Menschen so oder so ähnlich schon seit mehr als 500.000 Jahren jagen. (red, 3.7.2018)