Kann man von Schmerzensgeld sprechen? Der Bachmann-Preis ist mit 25.000 Euro für den Erstplatzierten verdammt hoch dotiert. Da können die meisten Literaturauszeichnungen im deutschen Sprachraum nicht mithalten. Selbst solche, die dicke Romane oder ganze Lebenswerke prämieren. Beim Bachmann-Preis geht es zwar nur um zehn Seiten. Das Wettlesen findet aber öffentlich statt. Lob und Tadel coram publico.

Bachmann-Preis: Nicht mit Martin Prinz, Daniel Kehlmann und Marlene Streeruwitz.
Foto: Lukas Beck/Suhrkamp/Apa/dpa/Arne Dedert/Georg Hochmuth

Als sich Marcel Reich-Ranicki nach der ersten Austragung im Juni 1977 fragte, was denn da eigentlich stattgefunden habe, fiel ihm einiges ein: "Ein Fest der Literatur? Ein Wettbewerb mit zwei Preisen und einem Stipendium? Ein Dichtermarkt? Eine Art Börse? Wirklich eine Arbeitstagung? Oder gar eine literarische Modenschau? Es war, glaube ich, alles auf einmal."

Menstruation als Verbrechen

Reich-Ranicki war einer der Mitbegründer des Wettbewerbs und dominierte ihn bis 1986 als Sprecher der Jury. Seine Kritiken in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung waren so euphorisch wie niederschmetternd. Auch in Klagenfurt schoss er scharf. "Wen interessiert schon, was die Frau denkt, was sie fühlt, während sie menstruiert? Das ist keine Literatur – das ist ein Verbrechen", kanzelte er gleich im ersten Jahr den Beitrag von Karin Struck ab. Sie verließ weinend den Saal.

Solche Tiefschläge sind heute undenkbar. Auch wenn die Lesebühne, auf der Autoren und Jury einander seit 2016 gegenübersitzen, "Arena" heißt.

Nicht nur Strucks Fall erregte unter Autoren von Anfang an Unmut. Erich Hackl mutmaßte wegen des rauen Tons in der Jury, es werde "halt die Sadomasoszene sein, die sich in Klagenfurt versammelt". Barbara Frischmuth kritisierte den Wettbewerb dafür, Autoren "mit Mitteln (...), die an sich nicht zu ihrem Beruf gehören" nach "dem Geldbündel an der Angel" schnappen zu lassen. Man hört ähnliche Kritik immer noch (siehe unten). Trotzdem treten auch heuer wieder 14 Autoren an. Warum? Ganz einfach.

1977 war das Fernsehen noch nicht live bei den Lesungen dabei. Nur in Ausschnitten wurde berichtet. 1983 schnitt sich Rainald Goetz während seines Vortrags die Stirn auf. Das Bild ging in die Literaturgeschichte ein. Heute ist der Bachmann-Preis trotz schwächelnder Zuschauerzahlen eine der wichtigsten Marketingmaschinen im deutschsprachigen Literaturbetrieb. Sein Sieger wird in allen Nachrichtensendungen und Zeitungen vermeldet. Mit wenig Aufwand schafft er für Autoren große Aufmerksamkeit. Das ist vor allem in Zeiten rückläufiger Buchverkäufe wichtig. Jeder öffentliche Auftritt wird zu einem weiteren Baustein in der PR-Strategie. Selbst für den, der nicht gewinnt, ist nichts verloren.

Nur der arrivierte Autor kann verlieren – weswegen er in der Regel nicht nach Klagenfurt fährt. Ein noch unbekannter Name, der durchfällt, versinkt schnell wieder in der Vergessenheit. Das bedeutet nicht, dass die Teilnahme nicht irgendwann wieder in Erinnerung gerufen werden kann. Etwa weil eine Veröffentlichung ansteht. Man hört in Klagenfurt viele Texte, die sich als Auszüge aus oder Entwürfe für einen bald erscheinenden Roman vorstellen.

Platz an der Sonne

Aus ideologischen Gründen, wie zu Zeiten Reich-Ranickis, lehnen heute die wenigsten Autoren eine Einladung nach Klagenfurt ab. Es gehört zum coolen Ton, sich im Vorfeld ambivalent bis ablehnend zum Bewerb zu äußern. Der Bachmannpreis ist für viele eine Showeinlage. Kämpfe über Literatur werden hier keine gefochten. Es geht um den Platz an der Sonne – und im Literaturmarkt.

Eröffnet wird der Bewerb Mittwochabend, 3sat überträgt täglich ab zehn bzw. elf Uhr. (Michael Wurmitzer, 3.7.2018)

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Daniel Kehlmann (43) – jüngstes Buch: "Tyll".
Foto: APA/dpa/Arne Dedert

Daniel Kehlmann: "Klagenfurt ist ein Tribunal"

Als Schriftsteller muss man mit Kritik leben, aber man darf sich ihr nicht unterordnen. Man darf sein Werk nicht für besser halten, wenn es Lob erhält; man darf die Arbeit nicht aufgeben, weil man geschmäht wird. Beides ist oft nicht leicht – aber sich um geistige Unabhängigkeit zu bemühen ist das Wesen des Künstlerberufs. Als Schriftsteller sollte man also dort, wo man kritisiert wird, nicht anwesend sein – nicht im Geiste, schon gar nicht physisch.

Klagenfurt ist ein Tribunal. Die Kritik sitzt dort über Autoren zu Gericht. Diese sind anwesend, sie warten die Urteilssprüche ab, sie haben sich klar sichtbar unterworfen. Wer das tut, hat für eine ganze Weile, und vielleicht lebenslang, das Recht verloren, sich über die Ungerechtigkeit der Kritik zu beklagen. Nichts ist erbärmlicher als ein Schreibender, der nach seiner Lesung mit bleichem Gesicht vor der ORF-Kamera lamentiert, dass man ihn so arg missverstanden hätte. "Ja wärst du doch nicht hingefahren!", möchte man ihm zurufen. "Oder hat man dich gezwungen?" Mich jedenfalls hat keiner gezwungen. Und deshalb bin ich nicht hingefahren.

"Es gibt in der Literatur keine Zielbänder, keine Leistungen dieser Art, kein Überholen und kein Abfallen", so Ingeborg Bachmann in einer ihrer Frankfurter Poetikvorlesungen. Kaum jemand hat so schön die Offenheit der Literatur verteidigt, kaum einer so kompromisslos klargemacht, dass Dichtung viele Dinge sein sollte, eines aber nie: ein Wettbewerb, ein Sport.

Wer in aller Welt kam eigentlich auf die Idee, ausgerechnet nach ihr einen Wettbewerb zu benennen?

Marlene Streeruwitz (68) veröffentlichte zuletzt "Yseut".
Foto: APA/GEORG HOCHMUTH

Marlene Streeruwitz: "Literatur im Abgrund des Marketings"

Autorinnen und Autoren werden über Preise "gemacht". Preisgelder sind ein wichtiger Bestandteil des Jahreseinkommens. Die Öffentlichkeit beruft sich bei ihrem Urteil über Texte auf die Vorauswahl durch Preisvergaben. Das ist schon einmal die ungerechte und unrichtige Grundlage für das Überleben mittels Schreibens literarischer Texte. Das war immer schon unrichtig. Nun. Die mühselige Erwerbssituation von Autorinnen und Autoren ist durch die neoliberalisierte, IT-revolutionsgeschüttelte Verlags- und Feuilletonsituation endgültig zerstört. Vom Literaturschreiben leben ist wirklich nicht mehr möglich.

Aber. Um einen Preis öffentlich lesen. Also einen Medienzirkus bedienen, der bisher nur einen Donald Trump im Genre "reality competition" an die Spitze gebracht hat. Das reißt auch die Literatur in den Abgrund des Marketings. Schon zur Gründung des Bachmann-Preises war klar, dass es darum gehen wird, sich vor oft auch sehr inkompetenten Juroren und Jurorinnen in einer Weise bewähren zu müssen, die die lesende Person und ihre Medienwirksamkeit oder ihre medienwirksame Medienunwirksamkeit bewerten wird. In Konkurrenz zu den anderen Schreibenden. Und. Wie zu erwarten, hat sich eine normative, also altmodisch antidiskursive Textkritik durchgesetzt. Marktorientierung wird der Literatur abgezwungen. Es muss ja dem Fernsehpublikum gegenüber argumentiert werden. Tatsächlich wird durch die mediale Anordnung der literarische Text zum Medium wiederum des Kritikertexts, der dann preisentscheidend auftritt. Das ist seit jeher und weiterhin eine neoliberale Hetzanordnung. Und wir haben es miterlebt. Präsident der USA ist der Preisrichter der Reality-Show geworden. Die Teilnehmer alle nicht. Der Bachmann-Preis. Schaden nimmt die Literatur.

Martin Prinz (45) schrieb zuletzt "Die unsichtbaren Seiten".
Foto: Lukas Beck/Suhrkamp

Martin Prinz: "Das ist nicht einmal zu wenig"

Der Bachmann-Preis ist eine Sportveranstaltung. Leider schämt er sich dafür. Vor Jahren wurde zur Ablenkung ein Fußballspiel ins inoffizielle Programm genommen, einmal spielte ich mit. In jüngerer Zeit wird zudem um die Wette geschwommen. Darauf verzichte ich wie auf das Wettlesen. Ich gebe zu, leicht fällt mir das nicht. Wettkämpfen bin ich nie abgeneigt. Ich sprinte auch nach 220 Kilometern im Zieleinlauf des verrücktesten Skilanglaufrennens der Welt. Aus purer Lust und ohne Gegner.

Einfach losstürmen, so würde ich liebend gern auch mit Kolleginnen und Kollegen loslesen: Loslesen und lostrinken, losstreiten und losträumen. Ganze Bücher würden wir lesen, kreuz und quer, uns ins Wort fallen und in die Haare kriegen, uns lieben und hassen, weil es um alles ginge. Um Leben und Tod, weil im Schreiben nichts anderes der Fall sein kann.

Doch es geht um den Bachmann-Preis, und ich verlaufe mich. Sätze, tausendmal gehörte Sätze über den Bachmann-Preis schleichen sich in gespieltem Ernst an und lassen in meinem Kopf eine der unzähligen Diskutieren-wir-über-den-Bachmann-Preis-Diskussionen aufplatzen. Hallo, Kopf!! Was willst du über den Bachmannpreis verhandeln?

Ob im Sportiven oder Ästhetischen, im Soziologischen oder Politischen. Bei allem, was Literatur ist und kann, wird auf dieser Bühne bestenfalls gespielt, als ob es um etwas ginge. Das ist nicht einmal zu wenig: Das ist nichts.