Episch angelegte, feurige Musik: Saxofonist Kamasi Washington erfreut die Szene mit eklektischen Neudeutungen der hymnischen 1960er-Jahre.

Foto: Young Turks

Die Rettung des Jazz erfordert womöglich außerirdische Mächte, die ganz nebenbei auch die Schwerkraft in Pension schicken: Der wuschelige Kerl mit dem Tenorsaxofon könnte eine solche Kreativmacht, könnte ein Wesen aus einer immateriellen Sphäre sein. Es hat sich womöglich nur als Entgegenkommen den Körper eines afrikanischen Medizinmanns zugelegt. Sein Äußeres soll nicht ungewohnt wirken, schließlich kann das Wesen seine immensen Fähigkeiten nicht unterdrücken: Jesu gleich schwebt es auf ruhiger, klarer See.

Und die straffe Körperhaltung samt strengem Blick und festem Griff aufs Instrument deuten imposante Pläne einer Kreatur an, die natürlich auch ein Jedi-Ritter auf Jazzmission sein könnte. Das Äußere soll jedenfalls Vertrauen schaffen für die Mission: Du wurdest abgeschrieben, Jazz! Ich aber bringe Rettung, es war an der Zeit, deine Lage ist dramatisch, doch Erlösung naht!

Kamasi Washington – "Street Fighter Mas".
KamasiWashington

Kamasi Washington, der auch als Zeichen kultureller Verbundenheit westafrikanische Mode trägt, versteht tatsächlich etwas von Marketing. Der optischen Inszenierung seines Images – zwischen Tradition und messianischen Futurismus – stellt er als Beilage ein paar philosophische Welterklärungen zur Seite. Im Kontext seines neuen Doppel-CD-Opus Heaven & Earth (auf Young Turks) wird es dabei psychologisch bis erkenntnistheoretisch: "Die Welt, in der mein Verstand lebt, lebt in meinem Verstand!

Diese Idee inspirierte mich zum neuen Album", bekennt der gern sanft sprechende Mann. "Die Wirklichkeit, die wir erfahren, ist eine Kreation unseres Bewusstseins. Aber unser Bewusstsein kreiert auch diese Wirklichkeit auf Basis gleicher Erfahrungen. Wir sind also gleichzeitig die Erfinder unseres persönlichen Universums wie auch Geschöpfe unseres Universums." Es klingt so schön wie abgehoben.

Ein Musiker als Medium

Es ist allerdings nicht nötig, Washingtons konstruktivistisch angehauchten Ansatz zu teilen, um seine Musik mit Gewinn zu rezipieren. Es ist auch ziemlich einerlei, ob man glaubt, seine Klänge kämen gar nicht aus ihm selbst, sondern würden quasi durch ihn hindurchströmen. So jedenfalls behauptet es der Jüngling aus Los Angeles, der einst nur Gangsta-Rap hörte und mit dreizehn zum Saxofon griff. Egal ob man ihn also für ein Medium oder schlicht für ein schlaues PR-Kerlchen hält, das 1981 das Licht der Welt erblickte: Seine Ideen sind erfrischend, da sympathisch maßlos und energetisch überbordend.

Keiner der 16 Tracks (in den Henson Studios in Los Angeles aufgenommen) gibt es in weniger als acht Minuten. Klar. Schließlich soll ausgiebig der improvisatorischen Freiheit gehuldigt werden, die nicht nur den Bandleader betrifft. Aber auch ihn: Washington, der meint, Drummer "Art Blakey hat einst mein Leben verändert", verfügt über einen samtigen Tenorton.

Bei schnittigen Hardbop-Linien wird der Klang allerdings schärfer. Gleichzeitig ist Washingtons Instrument bluesige Würze gegeben, wobei alle Stile in eine klare Dramaturgie eingebettet sind: Vom Sanften wandern sie über zum Emphatischen und münden in jenem hymnischen Aufschrei, der an den späten John Coltrane erinnert.

Kamasi Washington – "Fists of Fury".
KamasiWashington

Bei diesem spirituellen Innovator und Saxofonisten, der 1967 gestorben ist, ist kurz zu verweilen. Coltrane hat hier zentrale Bedeutung. Washingtons Kompositionen sind nämlich modal angelegte Versuche, durch Ekstase jene Sphären zu erreichen, in die das Vorbild in den 1960ern religiös motiviert zu entschweben suchte.

Dennoch ist die Doppel-CD keine blasse Variation von Coltranes Einspielung A Love Supreme. Die Neuheit Heaven & Earth ist lebendig und individuell durch ihre Opulenz: Aus dem oft gemütlich tuckernden Grooves erwachsen kitschige Melodien, um die herum Chöre aufblühen. Kollektive Improvisationen treiben das Dramatische auf die Spitze. Dazu steuert ein klassisches Orchester eine Zusatzschicht bei, die dem Ganzen ihr eigentümliches Gepräge verleiht. Gewaltig! Das war schon bei The Epic so, jene Einspielung, mit der Washingtons Karriere durch die Jazzdecke Richtung sehr interessiertes Poppublikum abhob.

Eine recht wilde Jazzoper

Washington wirkt auch politisch-humanistisch ernst: Es gehe in seiner Musik um "Ermächtigung. Solange jeder Einzelne nicht selbst dafür sorgt, dass die Welt zu dem friedlichen Ort wird, den er sich wünscht, und das wünscht sich eigentlich jeder, solange er die Aufgabe an Menschen delegiert, die es für ihn erledigen sollen, bleibt die Erde ein finsterer, kalter Planet im Universum." Seine Musik – eine Ermunterung.

In glanzvollen Augenblicken wirkt sie als Energiefeld einander überlagernder Klänge, Rhythmen und individueller Ekstasen durchaus belebend. Sie ist eine Art wilde Jazzoper, ein instrumental-vokales Happening um das Lagerfeuer der 1970er. Jazz, kosmischen Funk und Big-Band-Stile fantasieren über die Unendlichkeit und animieren zu politischem Handeln. Manches zeigt dabei das kompositorische Talent Washingtons (Hub-Tones). Manches ist von großer Naivität (Testify).

Kamasi Washington – "Space Travelers Lullaby".
KamasiWashington

Also: Sicher hat Washington mit seiner eklektischen Neudeutung der Historie, die er durch seinen Vater, Saxofonist Rickey Washington, vermittelt bekam, Glück gehabt. Auch hat es in keinem Fall geschadet, drei Jahre lang mit Snoop Dogg getourt zu haben, bei dem er lernte, "auf mikroskopische kleine Elemente der Musik", achtzugeben. Außerdem die Kooperation mit Kendrick Lamar beim Album To Pimp a Butterfly: Sie wird den Boden für eine gewisse Prominenz bereitet haben.

Der Nachfahre und gelehrige Schüler Coltranes verfügt jedoch über einen so unschuldig und impulsiv drängenden Kunstwillen. Solche Eigenschaften sind in jedem Genre essenziell. Die Anmaßung, sich zudem als Wesen zu inszenieren, das herabgestiegen ist, um die Musik zu erneuern, zeigt auch ein Talent zur Inszenierung. Ohne große Klappe geht in Zeiten des CD-Untergangs nichts mehr. Washington hat dies verstanden und wurde en vogue. Selbst die Popwelt horcht auf. Wie schön. Jetzt muss sich Washington nur über die Vorbilder hinaus entwickeln, will er den Jazz ein bisschen weiterbringen, der gern als ein bisschen untot angesehen wird. Bis dato ist Washington ein Feuerkopf, den Menschen schätzen, die eher keinen Jazz hören. (Ljubiša Tošić, 4.7.2018)