Laufen statt sitzen: Die wissenschaftliche Disziplin Psychomotorik geht davon aus, dass Denken und Lernen dann am besten funktionieren, wenn der Körper in Bewegung ist.

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Es ist paradox. Einerseits wird beklagt, dass sich Kinder zu wenig bewegen. Andererseits müssen sie gerade in dem Alter, wo ihr Bewegungsdrang am stärksten ausgeprägt ist, einen Gutteil ihrer Zeit auf Stühlen verbringen. Schule, das bedeutet vielerorts noch immer stillsitzen. Kein Wunder, dass das vor allem Volksschulkindern schwerfällt. Sitzen gehört zu den ungesündesten Körperhaltungen für den Menschen. "Jede andere Haltung ist gesünder als die Sitzhaltung", sagt Otmar Weiß. Er ist Sportsoziologe und Leiter des Zentrums für Sportwissenschaft an der Universität Wien. Dass Schule auch anders geht, vermittelt er mit dem Universitätslehrgang Psychomotorik, Österreichs einziger wissenschaftlicher Ausbildung in diesem Bereich.

Psychomotorik ist interdisziplinär angelegt und setzt sich aus psychologischen, pädagogischen, soziologischen und medizinischen Erkenntnisse zusammen. "Es geht um die Implementierung von Bewegung in das Leben von Kindern, Jugendlichen, Erwachsenen und alten Menschen", erklärt Weiß. Der Ansatz geht zurück auf den Sportpädagogen Ernst Jonny Kiphard und den Psychologen Friedhelm Schilling, die in den 1980er-Jahren in Deutschland die ersten Professuren in diesem Fachgebiet innehatten. Konzepte der Psychomotorik finden sich auch, mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung, unter den Begriffen Bewegungspädagogik, Bewegungstherapie oder Motopädagogik wieder.

Effizientes Lernen

Otmar Weiß hat sich dem effizienten Lernen verschrieben. Gemeinsam mit seinem Team hat er vor rund 25 Jahren die "Wiener Schule der Psychomotorik" begründet. "Wir versuchen, Bewegung in den Schulalltag zu integrieren", sagt der Soziologe. Die grundlegenden Prämissen hinter seinem Masterprogramm: Bewegung ist der Motor für die körperliche und geistige Entwicklung des Menschen. Und alles, was in Bewegung gelernt wird, bleibt auch leichter und länger im Gedächtnis.

Körperliche Aktivität soll demnach nicht länger auf den Turnunterricht reduziert werden, sondern überall stattfinden. Die Bedeutung von Zahlen und Buchstaben wird nicht mehr vom Blatt weg gelernt, sondern mit allen Sinnen erfahren. Dazu wird eine entsprechende Lernumgebung geschaffen. "Das Klassenzimmer ist dann nicht mehr der Sitzraum, sondern es entstehen Bewegungsräume", so Weiß. Das wirke sich maßgeblich auf die Konzentration und Motivation der Kinder aus.

Die Verknüpfung von Theorie und Praxis werde auch im Masterprogramm vorgelebt und erprobt: "Wir sind zuerst im Hörsaal und gehen dann sofort in den Turnsaal. Jeder kann gleich selbst an sich ausprobieren, wie psychomotorische Lehr- und Lerninhalte funktionieren." Selbsterfahrung sei in der Ausbildung besonders wichtig. Je besser man um die eigenen Stärken und Schwächen wisse, umso eher könne man Empathie dafür entwickeln, was Kinder brauchen. Er spricht von einem Paradigmenwechsel in der Pädagogik: "Lehrer sollen Kindern nichts beibringen. Sie sollen sie nur begleiten und für ein Fach begeistern."

Zwänge als Lernhindernisse

Otmar Weiß baut dabei auf die intrinsische Motivation der Heranwachsenden, also auf die Motivation von innen heraus. Herkömmliche Lehr- und Lernkonzepte würden auf äußere Zwänge setzen, auf Noten, Belohnung und Strafen. Psychomotorik in der Schule hingegen baut Zwänge ab. Weiß: "Kinder sollen das tun, woran sie Interesse und Freude haben, was Sinn für sie ergibt, dann können sie sich Wissen eigenständig aneignen und Neues besser merken und abspeichern." So könne Lernen effizient sein.

Wissenschaftlich untermauern konnte Weiß das kürzlich in einem vom Wissenschaftsministerium finanzierten Sparkling-Science-Forschungsprojekt. Vier Jahre lang forschte er gemeinsam mit seinem Team und mit Mitwirkung von Lehrpersonal und Schülern an Volksschulen und Neuen Mittelschulen in Wien, an herkömmlichen und psychomotorischen Schulen. Mit dem Ergebnis: Kinder, die psychomotorisch unterrichtet werden, schneiden in Lese- und Rechentests besser ab als ihre Alterskollegen aus herkömmlichen Schulen. Und weiter: Psychomotorischer Unterricht wirkt sich erheblich auf die persönliche Entwicklung, die Stabilität der Persönlichkeit, die Motivation sowie die soziale Eingebundenheit aus. Die detaillierten Ergebnisse werden demnächst in einem Projektbericht veröffentlicht.

Für Weiß steht fest: "Bewegungsräume sind die Zukunft der Schule." Dass es für diese Art des Unterrichts entsprechendes Lehrpersonal braucht, liegt für den Lehrgangsleiter auf der Hand. Ebenso dass es besser ist, wenn zwei Lehrer für 30 Kinder zur Verfügung stehen als einer. Derzeit gehe es bildungspolitisch leider in eine andere Richtung: "Wir haben in der Schule eindeutig zu wenig Lehrer." (Christine Tragler, 5.7.2018)