Wer denkt bei dem Wort Europa eigentlich noch an etwas anderes als an mühsame Gipfeltreffen in Brüssel, bei denen jeder für seine eigenen Interessen kämpft und man schon froh ist, wenn die Veranstaltung nicht in einem Zusammenbruch der ganzen Union endet? Da ist es vielleicht ganz nützlich, sich daran zu erinnern, was die Menschen ursprünglich für Hoffnungen mit dem europäischen Projekt verbunden haben.

Prag 1989. Das kommunistische Regime ist im Wanken, aber es existiert noch und verfügt über alle staatlichen Machtmittel. Hunderttausende haben sich auf dem Wenzelsplatz versammelt, demonstrieren für demokratische Reformen und lauschen ihrem künftigen Präsidenten Vaclav Hável, der von einem Balkon aus zu den Menschen spricht. Plötzlich ruft jemand aus der Menge: Wir wollen nach Europa! Und die Massen nehmen die Parole auf und wiederholen sie in einem gewaltigen Sprechchor: Wir wollen nach Europa! Noch denkt niemand an die Europäische Union. Was die Leute meinen, ist: Wir wollen in einer Weltgegend leben, wo es einen Rechtsstaat gibt, demokratische Institutionen, freie Wahlen, Wohlstand.

Traum, Wirklichkeit und Zuwanderer

Fast dreißig Jahre später ist dieser Traum längst Wirklichkeit geworden, aber so richtig glücklich ist damit offenbar niemand, weder im Osten noch im Westen. Dass in diesem Europa nun auch Zuwanderer aus anderen Kontinenten leben und leben wollen, scheint den Leuten die Freude an ihrer Union und deren Errungenschaften verdorben zu haben. Einen Rechtsstaat, demokratische Institutionen, freie Wahlen und Wohlstand haben wir noch immer. Aber wenn wir mit all dem nicht mehr unter uns sind, ist es für viele Menschen nicht mehr erstrebenswert. "Wir" heißt: wir Europäer. Die anderen, sagen sie, gehören nicht zu diesem Wir, sie sind Fremde und sollen Fremde bleiben. Oder am besten dorthin zurückkehren, wo sie hergekommen sind.

Außengrenzen. Anlandeplattformen (was für ein Wortungetüm!). Transitcamps. Hotspots. Registrierzentren außerhalb des Kontinents. Das haben wir alles beschlossen. Aber trotzdem wird Europa nach wie vor Millionen Menschen als Bürger haben, die aus anderen Kulturen kommen und diese Kulturen auch nicht völlig aufgeben wollen. Wenn wir Europa als politischen Player in der Welt erhalten wollen, wird uns nichts anderes übrigbleiben, als uns mit einem neuen Wir zu arrangieren. Einem Wir, in dem auch Menschen mit anderer Hautfarbe, anderen Religionen, anderen Gewohnheiten ihren Platz haben, solange sie unsere Gesetze einhalten und unsere Grundwerte akzeptieren. Ein Europa, das homogen, weiß und christlich ist, gibt es nicht mehr und wird es nie mehr geben. Auch dann nicht, wenn es kein einziger Flüchtling mehr auf unseren Kontinent schafft.

"Unsere Leute"

Europa ist immer noch Europa, aber es ist anders geworden. Daran können auch populistische Regierungen nichts ändern und auch keine beschwörenden Slogans wie "Daham statt Islam". Der Islam ist hier daham, wir werden ihn nicht loswerden, auch wenn wir das möchten. Es gibt schwarze Europäer, muslimische Europäer, buddhistische Europäer. Wenn es uns nicht gelingt, alle diese Leute als "unsere Leute" anzusehen, als Europäer wie wir, können wir die Vision eines gemeinsamen Europa vergessen. Erst wenn wir zu ihnen allen ehrlich "wir" sagen können – erst dann haben wir wirklich gewonnen. (Barbara Coudenhove-Kalergi, 5.7.2018)