In London wurde bis ins Morgengrauen gefeiert, es war eine Explosion aus Erleichterung und Freude.

Foto: APA/AFP/TOLGA AKMEN

Liveticker: WM-Viertelfinale: Schweden vs. England, Sa. 16 Uhr

Seit Monaten hat Theresa May wenig zu lachen, an diesem Freitag steht ihr ein Showdown mit dem Kabinett über die beste Brexit-Lösung bevor. So konnte die britische Premierministerin natürlich nicht widerstehen, am Mittwoch dem Unterhaus ihren Enthusiasmus über Englands Zittersieg in Moskau mitzuteilen. Da habe es ja "ein seltenes Ereignis" gegeben, sagte May verschmitzt, ehe sie die "Explosion aus Erleichterung und Freude" beschrieb, die am Dienstagabend englische Pubs und Wohnzimmer verwüstet hatte.

Noch tags darauf war die Begeisterung enorm – nicht unbedingt über die mäßige spielerische Leistung, die das Team um Kapitän Harry Kane, Mittelfeldmotor Jordan Henderson und Abwehr-Recke Harry Maguire im Achtelfinale gegen Kolumbien geboten hatte. Aber im siebten Anlauf bei einem wichtigen Turnier im Elfmeterschießen zu gewinnen, das gab der Brexit-verunsicherten Nation reichlich Anlass zur Freude. Von einem "Wunder" (Daily Mail) und einem "Schock" (Daily Telegraph) kündeten die Titelseiten der Zeitungen, "endlich" (Mirror) hätten die geschichtsträchtigen "History Boys" (Independent) "getroffen" (Daily Star). "Yes, we can", schrieb The Guardian.

Glückwünsche für Southgate

Besonders hervorgehoben wurde der zuletzt nicht unumstrittene Torhüter Jordan Pickford, dessen Parade gegen Kolumbiens Carlos Baccas Schuss das Versagen seines Namensvetters Henderson ausgeglichen hatte. Pickford (24) gehöre nun zu "den Giganten unter Englands Torhütern", jubelte The Telegraph – angesichts der zuletzt meist fliegenfängerischen Bemühungen von Vorgängern wie David James oder Joe Hart kein gigantisches Kompliment.

Einig waren sich Premierministerin und Experten in den Glückwünschen für Trainer Gareth Southgate. Der frühere solide Mittelfeldspieler für Nationalelf und zweitrangige Ligaklubs, zuletzt Trainer der englischen Junioren, hatte das Team im Herbst 2016 nach einem Skandal um den Kurzzeitübungsleiter Sam Allardyce übernommen. Bis dahin war Southgate vor allem für eine Szene bekannt: seinen Fehlschuss im Elferschießen des EM-Halbfinales 1996, der damals Deutschland den Weg zum Titel geebnet hatte.

Umbau

Kein Wunder also, dass Southgate (47) seine Mannen vor dem Achtelfinale den Schuss vom Punkt üben ließ, schließlich sollten sie nicht so unvorbereitet in die psychologisch schwierige Situation geraten wie er damals. Die Öffentlichkeit und erkennbar auch seine Spieler hat er durch seine ruhige, zielstrebige Ausstrahlung und seinen unterkühlten Stil beeindruckt.

Den einstigen Starstürmer Wayne Rooney, längst nur noch ein Schatten seiner selbst, verbannte er aus der Nationalelf, schmiedete stattdessen das jetzt erfolgreiche Team um eine Achse junger Spieler vom Londoner Klub Tottenham, angereichert mit Talenten von Liverpool und Manchester City. Starallüren sind out.

Hinter dem netten Trainer und seiner Equipe von Youngstern hat sich die Nation versammelt. Sogar der Fraktionschef der schottischen Nationalisten im Unterhaus mochte den sonst eher ungeliebten Engländern die Gratulation nicht verweigern. Am Samstag warten im Viertelfinale die Schweden. Und natürlich, kündigte Premierministerin May an, werde auch dann wieder "das englische Georgskreuz über der Downing Street" flattern. (Sebastian Borger, 4.7.2018)