"Gandhi" und der Physiklehrer: Der Chef der kemalistisch-sozialdemokratischen Partei CHP in der Türkei, Kemal Kiliçdaroğlu (li.), der wegen seines scheinbar friedfertig freundlichen Charakters den Beinamen "der türkische Gandhi" trägt, will nach der neuerlichen Wahlniederlage nicht seinem Rivalen Muharrem İnce weichen. Der hatte als Präsidentenkandidat zwar auch gegen Erdoğan verloren, aber mit deutlich besserem Ergebnis als die Partei.

AFP / Adem Altan

Meral Akşener, die ehemalige MHP-Politikerin und Innenministerin, trat erst zwei Tage nach der Wahl in der Türkei auf und räumte ihre Niederlage ein. Als Präsidentenkandidatin hatte sie gehofft, Amtsinhaber Erdoğan in eine Stichwahl zu zwingen. Bekommen hat sie am Ende nur sieben Prozent. Im neuen Parlament, das am Sonntag zusammentritt, will ihre rechte İyi Parti (die Gute Partei) überraschend nicht mehr das Bündnis mit der CHP weiterführen.

AFP / Adem Altan

Das Wahldebakel der größten türkischen Oppositionspartei im Vormonat war durchaus preiswert. Zumindest was die technische Seite anbelangt. 80.000 Lira oder zum derzeitigen Kursstand etwa 14.500 Euro sollen die Informatiker der Istanbuler Adil Seçim Platformu (Plattform Gerechte Wahlen) angeblich der CHP für die Auszählung der Stimmen bei den Präsidenten- und Parlamentswahlen am 24. Juni – parallel zur offiziellen Auszählung durch die von der Regierung kontrollierte nationale Wahlbehörde – in Rechnung gestellt haben. Das System ging in der Wahlnacht krachen.

Onursal Adigüzel, einer der Vizevorsitzenden der türkischen Oppositionspartei CHP, hat diese Woche zwei Rechnungen der Organisation Adil Seçim Platformu über insgesamt 80.000 Lira bei Twitter veröffentlicht. Damit wollte der CHP-Politiker Medienberichte entkräften, denen zufolge seine Partei sieben Millionen Lira für die parallele Stimmenauszählung ausgegeben hätte. Die hat am Ende nur spät ähnliche Ergebnisse wie die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu präsentiert. Die Webseite der Wahlbehörde selbst war in der Wahlnacht auch ausgefallen.

Die technischen Schwierigkeiten, mit denen die alternativen Stimmenauszähler kämpften, machten Parteiführung und Präsidentenkandidaten der CHP in der Wahlnacht des 24. Juni wie gelähmt. Sie twitterten zwar, warnten vor Propaganda und psychologischer Kriegsführung der Regierung, die über die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu rasch den Sieg Tayyip Erdoğans und seiner AKP verkündete. Doch weder der CHP-Vorsitzende Kemal Kiliçdaroğlu noch der Kandidat für das Präsidentenamt, Muharrem İnce, traten in jener Nacht vor die Kameras und erklärten den türkischen Bürgern, was Sache ist.

Befriedungs-Dinner schlägt fehl

Dafür liefern sich beide Männer nun einen öffentlich geführten Kampf um die Führung der säkularen Republikanischen Volkspartei. Auch ein privates Abendessen in Begleitung der Ehefrauen zu Beginn dieser Woche hat die Auseinandersetzung über Wahlniederlage, Verantwortung und politische Zukunft nicht besänftigen können. Im Gegenteil. Der wenig kontrollierte İnce ließ sich nach dem Essen Journalisten gegenüber über das Gespräch aus. Sehr zum Ärger Kiliçdaroğlus.

30,64 Prozent der Stimmen hatte İnce bei der Präsidentenwahl erhalten, nur 22,65 Prozent die CHP bei der Wahl des neuen Parlaments. İnce hatte das beste Ergebnis eines CHP-Politikers seit dem Sieg von Bülent Eçevit bei der Parlamentswahl 1977 eingefahren. Kiliçdaroğlu fiel noch unter die 25 Prozent seiner ersten Parlamentswahl als Parteichef 2011 zurück. Wenn es nach nun insgesamt acht Jahren Niederlagen bei Wahlen und Referenden unter Kiliçdaroğlu einen geeigneten Zeitpunkt für den Rücktritt gibt – so glaubten viele in der CHP und außerhalb –, dann wäre er wohl jetzt da. Kiliçdaroğlu denkt anders darüber. Der 69-Jährige klammert sich an seinen Sessel.

Schwerfälliges Schiff

Zweimal war İnce bereits gegen den Vorsitzenden bei Parteitagen angetreten und hatte verloren. Dass er nun bei einem Sonderparteitag, gilt im Moment nicht als ausgemacht. Die CHP, die einstige Staatspartei des Republikgründers Kemal Atatürk, ist ein schwerfälliges Schiff. İnce, der innerhalb der Partei auf dem rechten, nationalistisch-kemalistischen Flügel steht, weiß dennoch einige einflussreiche Parteifreunde wie den Bürgermeister von Izmir, Aziz Kocaoğlu, hinter sich. Izmir ist die letzte große Hochburg, die von der CHP noch gehalten wird.

Der Parteirat, das oberste Führungsgremium der CHP, hat sich am Donnerstag gleichwohl gar nicht erst mit der Frage eines Sonderparteitags nach der Wahlniederlage befassen wollen. "Nicht auf der Tagesordnung", gab der Parteisprecher in Ankara bekannt. İnce tourt derweil weiter durch die Provinz. Der 54-Jährige versucht den Enthusiasmus am Leben zu erhalten, den sein Wahlkampf ausgelöst hat. 15 Millionen stimmten für ihn – und doppelt so viel für Tayyip Erdoğan, den autoritären Staatschef.

İnce auf Tour

İnce braucht zudem eine politische Bühne, denn im Parlament ist er nicht. Dort wird der nun schwer angeschlagene Kiliçdaroğlu die CHP-Fraktion zu dirigieren versuchen. 146 Abgeordnete stellt die Partei dort. Sie wird wieder die zweitgrößte Fraktion hinter der konservativ-islamischen AKP von Erdoğan sein. Zusammen mit den anderen Oppositionsparteien – HDP (67) und die rechte Gute Partei (İyi Parti, 43) – könnte sie 256 Mandatare hinter sich bringen; 344 haben AKP und die rechtsgerichteten Nationalisten der MHP. Doch selbst diese Rechnung geht nicht auf.

"Bündnis zusammengebrochen", titelte die regierungsunabhängige Zeitung "Cumhuriyet" am Donnerstag. Ganz anders als politische Beobachter kurz vor der Wahl noch glaubten, bricht nicht etwa Erdoğans Allianz im Parlament auseinander, sondern das "Bündnis der Nation" der Opposition. Es sei ohnehin nur gebildet worden, um einen Wahlbetrug zu verhindern, erklärte der Sprecher der rechten İyi-Partei am Mittwoch. Und jetzt sei eben Schluss.

Die "Guten" bei der AKP

Es ist eine überraschende Kehrtwende, denn schließlich hatten die Parteichefs von CHP und İyi – Kiliçdaroğlu und Meral Akşener – im festen Glauben an einen Sieg bei den Parlamentswahlen verabredet, nach der Wahl gemeinsam das neue Präsidialregime Erdoğans zur parlamentarischen Demokratie zurückzubringen. Nach der Wahl und dem enttäuschenden Abschneiden Akşeners als Präsidentenkandidatin mit nur 7,29 Prozent signalisierten einige ihrer Parteifreunde bereits den Wunsch nach einer Zusammenarbeit mit der AKP im Parlament. Allein die prokurdische Minderheitenpartei HDP kommt ohne Schaden aus dieser Wahl heraus. Ihre alten Probleme bleiben: Die führenden Politiker sind in Untersuchungshaft, die meisten ihrer Bürgermeister abgesetzt. (Markus Bernath, 5.7.2018)