Bild nicht mehr verfügbar.

Flüchtlinge an Bord der MS St. Louis warten in der Bucht vor Havanna vergebens darauf, von Bord gehen zu dürfen. Viele von ihnen wurden später im Holocaust vom NS-Regime ermordet.

Foto: akg-images / picturedesk.com

Bild nicht mehr verfügbar.

Lord Winterton, der Vertreter Großbritanniens, spricht auf der völlig gescheiterten Évian-Konferenz im Juli 1938.

Foto: Getty Images

Herzzerreißende Szenen spielten sich auf dem Schiff ab, wie sich Menschen, die an Bord waren und überlebten, später erinnerten. Frauen, Kinder, Männer, ganze Familien weinten und schrien verzweifelt, als sie erfuhren, dass sie nach dem emotionalen Abschied von ihrer Heimat und Wochen auf hoher See nicht an Land gehen dürften. Den Menschen an Bord hätte das nämlich mit ziemlicher Sicherheit das Leben gerettet.

In der Bucht vor Havanna

Doch den über 900 deutschen Juden, die im Mai 1939 in der Bucht vor Havanna vor Anker lagen, wurde die Einreise verweigert. Durch antisemitische Propaganda in Kuba befeuert, waren die Einreisebestimmungen kurz zuvor geändert worden. Die Menschen an Bord, die von Hamburg aus aufgebrochen waren, weil sie vor dem Naziregime fliehen mussten, hatten fast alle gültige Papiere und Touristenvisa. Doch das galt nichts mehr. Nur rund 30 durften von Bord. Der Rest musste am 2. Juni Kuba verlassen und hatte eine grausame Irrfahrt entlang der amerikanischen Küste vor sich. Ein Stück Geschichte, das die involvierten Staaten noch viele Jahrzehnte später beschämen sollte.

9. Mai 2018: Der Abgeordnete Michael Levitt von den Liberalen ist im kanadischen Parlament in Ottawa, sichtlich bewegt, am Wort: "Zur ewigen Schande Kanadas verweigerte die damalige Regierung diesen Flüchtlingen den Schutz." Levitt hat jahrelang daran gearbeitet, dass sich sein Land offiziell entschuldigen würde. Sein Parteikollege, Premierminister Justin Trudeau, kommt dieser Forderung Sekunden später nach. Sein Land habe sich mit der damals geltenden "None is too many"-Flüchtlingspolitik ("Keine sind noch zu viele") nicht nur "an jenen Flüchtlingen, sondern auch an ihren Nachfahren und an ihrer Gemeinschaft schuldig gemacht", sagte Trudeau. Kanada, das von 1938 bis 1945 überhaupt nur 5000 Juden und Jüdinnen Asyl gewährte, hat sich für die ablehnende Haltung gegenüber den Flüchtlingen auf der St. Louis entschuldigt. Nach 79 Jahren.

Historische "Gutmenschen"

Das Schiff durfte zuvor auch in den USA nicht anlegen. Dort wurde es zur innenpolitischen Zwickmühle für Präsident Franklin D. Roosevelt, dem einige gewichtige Parteimitglieder der Demokraten drohten, ihn im nächsten Wahlkampf nicht zu unterstützen, wenn er die Juden einreisen lassen würde. Roosevelt hatte im Jahr zuvor die erfolglose Évian-Konferenz einberufen, in der die Aufteilung jüdischer Flüchtlinge auf 32 Staaten besprochen werden sollte.

In Kanada hatten die Flüchtlinge durchaus eine Lobby: In Toronto hatten sich zu dieser Zeit 41 prominente Bürger rund um den Historiker und Geistlichen George MacKinnon Wrong zusammengetan, um eine Petition an Premierminister William Lyon Mackenzie King zu formulieren. Ihr Land solle Flüchtlinge aufnehmen, forderten sie. "Gutmenschen" oder "Willkommensklatscher" würde sie so mancher in Österreich heute wohl nennen. Doch der Premier hörte lieber auf einige Minister und den Direktor der Einwanderungsbehörde, Frederick Blair, der der Meinung war, die Flüchtlinge würden die Einwanderungsbestimmungen Kanadas nicht erfüllen und kein Land könne "seine Türen weit genug öffnen, um alle hunderttausenden Juden, die Europa verlassen wollen, aufzunehmen. Irgendwo muss man eine Grenze ziehen."

Kein Willkommen in Halifax

Die Grenze war zumindest für rund 250 Passagiere der MS St. Louis tödlich. Denn nachdem Kanada am 7. Juni das Anlegen des Schiffs in Halifax verweigert hatte, nahm es Kurs auf Europa. Am 17. Juni lief man schließlich in Antwerpen ein. Von hier aus wurden die Menschen auf Belgien, die Niederlande und Frankreich aufgeteilt – Länder, in die rund ein Jahr später die Nazis einmarschierten. Nur jene, die von Großbritannien aufgenommen wurden, hatten Glück. 254 Passagiere der St. Louis wurden später im Holocaust ermordet, viele von ihnen in Konzentrationslagern.

Dem Drama dieses Schiffs ging die glücklose Konferenz im französischen Évian-les-Bains voraus. Sie begann genau vor 80 Jahren am 6. Juli 1938 und dauerte neun Tage bis 15. Juli. In Deutschland war Hitler zu diesem Zeitpunkt schon fünf Jahre an der Macht. Doch nach der Annexion Österreichs im März 1938 und den Pogromen im November desselben Jahres hatte sich "ein fast unüberschaubarer Flüchtlingsstrom in Bewegung gesetzt", wie die österreichische Historikerin Gabriele Anderl in einem Essay über die Bedeutung der illegalen Flucht über Grenzen für die Rettung von Verfolgten des NS-Staates schreibt ("Grenzen", Jüdischer Verlag im Suhrkamp-Verlag 2015).

Achse der Unwilligen

Der amerikanische Historiker Dennis R. Laffer bezeichnet die Évian-Konferenz im von Anderl und Simon Usaty herausgegebenen Band Schleppen, Schleusen, Helfen (Mandelbaum-Verlag 2016) auch als "den jüdischen Pfad der Tränen". Das offizielle Verbot der Auswanderung aus dem Deutschen Reich galt erst ab dem 23. Oktober 1941. Im Juli 1938 war das Problem für deutsche und österreichische Juden also weniger die Ausreise aus der Nazidiktatur als die Frage, wo sie Asyl bekommen konnten.

Bei der auf Initiative von Roosevelt einberufenen Konferenz saßen Vertreter von 32 Staaten in Évian-les-Bains. Die meisten von ihnen übertrafen sich in Ausreden dafür, warum sie keine Juden aufnehmen konnten: etwa die wirtschaftliche Lage, steigende Arbeitslosenzahlen, eine angebliche Gefahr von Überfremdung oder soziale Spannungen. Nur von Costa Rica und der Dominikanischen Republik gab es Zugeständnisse.

Die Konferenz endete ergebnislos, sieht man von der Gründung des Intergovernmental Committee on Refugees (ICR) ab, in dem einige der Teilnehmer an der Suche nach Asylorten für Juden arbeiten wollten. Das ICR stellte seine Tätigkeit ein, bevor sie noch richtig begonnen hatte, löste sich jedoch nicht auf. 1943 wollten die USA und Großbritannien das ICR noch einmal aktivieren, doch da kam die Hilfe für die meisten europäischen Juden zu spät.

"Total paralysiert"

Die damalige Korrespondentin der New York Post in Berlin, Dorothy Thompson, schrieb zuvor, dass nur die USA mit ihrem "Glauben an demokratische Prinzipien" eine internationale Rettungsoffensive leiten könnten. Sie sah eine "politische Falle" für Demokratien im Umgang mit der Situation und warnte davor, dass die "liberale westliche Kultur total paralysiert" reagiere. Nichthandeln würde einen zum Komplizen von "Hitlers antijüdischem Programm" machen. Eine begründete Sorge, wie sich herausstellen sollte.

Eine andere Frau, die die vor allem von Männern abgewickelte Konferenz beobachtete und eindrücklich kommentierte, war Golda Meir, später Premierministerin Israels: "Dazusitzen in diesem wunderbaren Saal, zuzuhören, wie die Vertreter von 32 Staaten nacheinander aufstanden und erklärten, wie furchtbar gern sie eine größere Zahl Flüchtlinge aufnehmen würden und wie schrecklich leid es ihnen tue, dass sie das leider nicht tun könnten, war eine erschütternde Erfahrung. (...) ich hatte Lust, aufzustehen und sie alle anzuschreien: Wisst ihr denn nicht, dass diese verdammten 'Zahlen' menschliche Wesen sind, Menschen?" (Colette M. Schmidt, 6.7.2018)