In Lundes Roman geht es um das Gletschereis, das Meer und um Wasserkriege.

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Maja Lunde, norwegisches Literaturwunder.


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Manchmal überholt die Realität die Fiktion. Maja Lunde sagt, sie habe es jedenfalls nicht glauben können, als sie zum ersten Mal davon las. Eine Firma, die in Norwegen jahrtausendealtes Gletschereis abbaut, um daraus von Hand gehackte Eiswürfel für die Drinks von – vorrangig arabischen – Super reichen herzustellen? "Es klang wie erfunden", sagt Lunde. Einfach total absurd. Und doch ist es wahr. Die Firma gibt es, sie heißt Svaice und bewirbt auf ihrer Website "the world’s most exclusive ice cube" für ein Zielpublikum von "the chosen few".

Wie reagierte Maja Lunde? Die norwegische Erfolgsautorin, Jahrgang 1975, erfand für ihren neuen Roman Die Geschichte des Wassers eine weibliche Hauptfigur namens Signe, die eine turbulente Vergangenheit als Umweltaktivistin hat und über eine solche Gletschereiswürfel-Geschäftsidee in ihrem abgelegenen norwegischen Heimatort derart in Rage gerät, dass sie ihrem Zorn nur durch einen nächtlichen Sabotage-Akt Luft machen kann.

Dieser Erzählstrang von Lundes Roman, der im Heute spielt, lässt sich als Rache der Literatur an den hirn losesten Auswüchsen des realen Kapitalismus lesen. Denn im Buch erreichen die Gletschereiswürfel ihre Adressaten nicht – im Gegenteil: Ein Großteil landet im Fjord. Ein kleiner Teil, gut verpackt in einem Dutzend stabiler Kunststoffkisten, findet auf seglerischen Umwegen – und längst zu klarem Süßwasser geschmolzen – seinen Weg in die Zukunft, genauer: ins Frankreich des Jahres 2041, wo er ganz andere und elementarere Dienste leistet als ursprünglich vorgesehen.

Das Jahr 2041 zeichnet Lunde im zweiten Erzählstrang ihres Romans nämlich als Teil einer traurigen Post-Kollaps-Ära. In dieser ziehen Flüchtlingsströme aus den Halbwüsten des EU-Südens in die "Wasserländer" des Nordens, tobt in Spanien ein Bürgerkrieg um die knappe Ressource Süßwasser und bekommt die kleine Tochter von Lundes Held David, der in einem französischen Flüchtlingslager gestrandet ist, eine Gutenachtgeschichte vom Regen erzählt, an den sie sich selbst kaum mehr erinnern kann.

Gutenachtgeschichte vom Regen

Geht es um Maja Lunde, ist auch angesichts solcher Zukunftsvisionen weniger von Scifi, sondern eher von "Clifi", also "Climate Fiction", die Rede. Dieses literarische Genre hat in den letzten Jahren parallel zum Klimawandel einigermaßen Fahrt aufgenommen, und die 43-jährige Norwegerin ist zweifellos die aktuell regierende Queen of Clifi, auch wenn sie selbst mit dem Label wenig anfangen kann: "Ich nenne meine Bücher einfach Romane", sagt sie. Bisher sind es zwei. Vier sollen es werden.

Die ersten beiden, Die Geschichte der Bienen (2015) und Die Geschichte des Wassers (2018), haben Lunde, die sich davor aufs Schreiben von Kinder- und Jugendbüchern beschränkt hatte, in Rekordzeit zu einem internationalen Star gemacht. Die Geschichte der Bienen lag monatelang auf Platz eins der Spiegel-Bestsellerliste, liegt mittlerweile in 33 Sprachen vor und verkaufte sich international millionenfach. Die Geschichte des Wassers, Mitte März dieses Jahres erschienen, ist auf dem besten Weg zu demselben Erfolg.

"Es ist irgendwie surreal", sagt Lunde und lacht. Es ist ein Lachen, das nicht hochtrabend klingen soll. Sie versuche, erzählt sie, ihr normales Osloer Leben mit Mann und drei Söhnen weiterzuführen – allerdings mit viel mehr Reisen, Interviews und Anfragen, was das konzentrierte Schreiben mitunter nicht leichter mache. Man könnte sagen, Maja Lunde ist nach Karl Ove Knausgård das zweite norwegische Literaturwunder, das innerhalb weniger Jahre wie ein Lauffeuer die globale Lesewelt überzieht.

Und wie Knausgård hat sich auch Lunde eine mehrteilige Romanreihe vorgenommen, deren Titel sich gleichermaßen als Einzelbücher wie auch als zusammenhängende Serie lesen lassen. Die gemeinsame Klammer von Lundes Büchern? Die Langzeitfolgen von Klimawandel und Umweltzerstörung sowie eine formale Struktur aus jeweils zwei oder drei Erzählsträngen, die in Zukunft und Gegenwart bzw. Vergangenheit spielen.

Allerdings wedelt Lunde nicht ständig penetrant mit dem mahnenden Zeigefinger. Stattdessen dekliniert sie ihre Themen an ihren Figuren und den Entscheidungen, die diese in Vergangenheit und Gegenwart treffen, durch: Es geht um Beziehungen, um Generationenkonflikte, Liebe und Vertrauen und ganz besonders um menschliche Hybris und die Frage, wie man abwägt zwischen Eigeninteresse und Allgemeinwohl, ideeller Selbstverwirklichung und Zwangsbeglückung von Gemeinschaften, zwischen Umweltschutz und wirtschaftlichem Auskommen. Eindimensional oder gar einseitig ist Lundes Blick dabei nicht. "Ich möchte mehr Fragen stellen als Antworten geben", sagt sie.

Ursprünglich hatte sie auch nur einen einzigen Roman geplant. "Aber als ich Die Geschichte der Bienen schrieb, tauchten plötzlich auch noch andere Themen auf, und immer neue Charaktere klopften an meine Tür. Also musste ein größeres Projekt daraus werden." Die Geschichte der Bienen erzählt – es lässt sich am besten so schlagworthaft formulieren –, wie alles mit allem zusammenhängt: die Generationen, Menschen und Bienen, Natur und Landwirtschaft. In einem Narrationsfaden, der 2098 in China spielt, ist eine Welt ohne Bienen, in der zur Gänze mühsam von Hand bestäubt werden muss (wie es schon heute in Teilen Chinas der Fall ist), Realität geworden. Der dritte Roman, an dem Maja Lunde gerade schreibt, wird bedrohte Tierarten in den Fokus stellen.

In Die Geschichte des Wasser – Lundes aktuellem Roman – geht es um Wasserschutz und -ausbeutung, um Gletschereis und das Meer, um Wasserkriege und Dürre. "Ich nannte meine Welt Erde, aber ich dachte, eigentlich müsste sie Wasser heißen", denkt sich Lundes Heldin Signe im Jahr 2017 und erinnert sich an ihre Studententage, in denen ein großer Wasserfall einem Kraftwerksbau weichen musste – und mit ihm die Besetzer, die für seinen Erhalt demonstriert hatten. Als historisches Vorbild dafür diente Lunde der Mardalsfossen, ein gewaltiger norwegischer Wasserfall, der 1970 trotz heftiger Proteste im Dienste der Stromerzeugung umgeleitet wurde.

Lundes Heldin segelt allein durch Nordsee und Atlantik nach Bordeaux und von dort hinein in den Canal du Midi bis weit ins französische Binnenland. Sie ist eine sture, pessimistische, ältere Frau – eine Einzelkämpferin. Signe will zu ihrer alten Liebe Magnus, um ihn zur Rechenschaft zu ziehen für die Umweltsünden, die er als Firmenchef in ihrer norwegischen Heimatgegend zu verantworten hatte.

Der Sturm, in den sie auf hoher See gerät, ist zugleich der Sturm in ihrem aufgewühlten, ein samen, störrischen Kämpferherzen. Vom Segeln auf hoher See versteht auch Maja Lunde viel. Von Kindheit an ist sie oft mit ihrem Vater gesegelt und hat als 17-Jährige gemeinsam mit 68 anderen Teenagern ein ganzes Schuljahr auf dem – damaligen – Schulschiff Christian Radich verbracht, das von Norwegen bis nach Madeira und zu den Azoren fuhr.

"In diesem Jahr haben wir uns sehr gut kennengelernt", lacht Lunde, "und es hat mich sehr verändert. Übers Segeln, überhaupt übers Wasser zu schreiben war ein großes Vergnügen." Und auch wenn ihre Eltern nicht gerade aktive Umweltaktivisten waren, so wuchs sie doch in einem Umfeld auf, in dem ein Anti-Atomkraft-Plakat in der Küche hing. "Es wurde darüber geredet, wie das Handeln des Einzelnen einen Unterschied machen kann", erzählt Lunde. Das Gefühl ist ihr geblieben. Bei ihren eigenen Kindern – und beim Schreiben von Romanen. (Julia Kospach, 5.7.2018)