Die Zahlen, die der Börsenverein des Deutschen Buchhandels bekanntgegeben hat, sind erschreckend: Nur noch 44 Prozent aller Deutschen geben Geld für Bücher aus. Das entspricht einem Rückgang von 18 Prozent. Aktuelle Zahlen für Österreich stehen noch aus.

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Jüngere Generationen kann der Buchmarkt kaum mehr erreichen.

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In den Verlagen ist die große Sorge eingekehrt, vor allem in den kulturell renommierten. Einige Entscheidungen lassen gar auf Panik schließen. Hausautoren finden sich plötzlich vor die Tür gesetzt, Projekte werden mit merkwürdigen Begründungen abgelehnt. Mit den ohnehin wenigen Gewissheiten über die Mechanismen des Publikationsgeschäfts, heißt es, sei nicht länger zu rechnen. Als besonders schwerwiegend beklagen Editoren, dass komplexere Texte nicht mehr vermittelbar seien. Wir ahnen: Musil, Joyce, Proust würden heute keine Verleger finden.

Junge Generation bleibt Büchern fern

Der Börsenverein des deutschen Buchhandels veröffentlichte kürzlich Zahlen und Analysen zur Misere. Seit 2012 ist das Lesepublikum um 6,4 Millionen geschrumpft. Bislang zeitigte der Absturz nur geringfügige Auswirkungen auf den Gesamtumsatz, da er zwar bei den 40- bis 50-Jährigen um 37 Prozent zurückgegangen ist, aber die über 50 Jahre alten Menschen mehr und teurere Werke erstehen. Schlimmer: Die junge Generation bleibt Büchern fern. Die potenziellen Leserinnen von morgen greifen zu Computerspielen und TV-Serien; sie haben sich ins Internet verzogen, in Simulation, Verkürzung.

Die digitalen Medien bewirken bekanntlich immense Reizüberflutungen und Aufmerksamkeitsstörungen. In ihrer Knappheit, ja Fragmentierung behindern sie ausführliche Erzählung und assoziatives Denken. Für vieles erweisen sie sich als durchaus nützlich – freilich im Zusammenspiel mit anderen Kulturtechniken wie eben dem Lesen von Büchern und Zeitungen.

Wer sich dauerhaft einzig dem Digitalen hingibt, mag und kann ausführliche Argumentation, differenzierte Wertigkeiten und mehr als einen Nebensatz nicht aufnehmen. Wer jedoch anspruchsvolle Bücher liest, vermag sich in ungewöhnliche Möglichkeitswelten zu versetzen, einem Denkfluss abseits des Mainstreams zu folgen. Eine Gesellschaft, der es an originellen Geistern mangelt, wird auf Dauer bestenfalls bewahren, schwerlich aber erneuern.

Programmkürzung und Stapelwesen

Die Buchläden reagieren wie die Verlage mit Konzentration, also Programmkürzung und Stapelwesen. Immer weniger Autoren verkaufen immer mehr, während immer mehr Autoren immer weniger verkaufen. Wer vor ein paar Jahren von einem Roman, sagen wir, zehntausend Exemplare absetzte, müsste sich nun bei demselben Werk mit dreitausend begnügen. Der Beruf der ernsthaften Schriftstellerin, des fundierten Publizisten tendiert zum Prekariat. Auch in der zweiten Reihe der Erfolgreichen gehen die Auflagen zurück, es braucht heute deutlich weniger, um auf Platz 10 der Spiegel-Bestsellerliste zu landen.

Nicht die Qualität, nicht die nötige Freiheit der Sprachkunst steht im Vordergrund. Vielmehr üben außerliterarische Diskursvorgaben immer stärkeren Druck auf das Schreiben aus. In einem bestürzenden Lagebericht hat Tina Uebel vor einigen Wochen in der Zeit vor Augen geführt, wie Moralbedenken – nicht zuletzt von Verlagen und Medien – die schriftstellerische Arbeit einschränken. Sie konstatiert, wie eine Political Correctness sukzessive die kreative Freiheit beschneidet; wie ein "Verlust des Weltverständnisses" von anderen Kulturen nur ein Zerrbild zulasse, das "unseren kulturellen Präferenzen" entspreche. Gepaart sei dies mit einem Verlust des Sprachverständnisses, der Unterscheidungsfähigkeit, des Humorverständnisses und der Debatte.

In vorauseilendem Gehorsam würden Lektorate und Redaktionen die Rotstifte ansetzen. Insbesondere die Rollenprosa sei eine bedrohte Art, da Fiktion nicht als solche erkannt, nicht anerkannt werde.

Wenn eine Gesellschaft die Darstellung komplexer Verhältnisse erschwert, läuft sie auf das Schwarz/Weiß-Denken hinaus. Laut Robert Pfaller erleben wir eine weitreichende Infantilisierung bei gleichzeitiger Brutalisierung gesellschaftlicher Verhältnisse. Die Entsolidarisierung heißt "Eigenverantwortung". Um derartiges Schönfärben hinzunehmen, bedarf es einer Herrschaft der Oberflächlichkeit.

Für entsprechende Stillstellung und Ausrichtung sorgen alte, neue und euphemistisch "sozial" genannte asoziale Medien. Sie halten den intellektuellen Ball flach, ihre Programme bestehen größtenteils aus Sport, Krimi, Fantasy. Kein TV-Tag ohne Fußball, kaum eine Buchhandlung ohne stapelweise Krimis und Fantasy. Der Sport sorgt für Ablenkung, dient als Ventil, formt Gemeinschaft, steigert den Nationalismus. Das Grundmuster des Krimis arbeitet mit Angst und dem Ruf nach Schutz durch die Staatsgewalt.

Wer liest denn noch, sagen wir: den Faust, wer gar den zweiten Teil? Nicht einmal die meisten Kandidatinnen fürs Deutsch-Lehramt. Die Vorschläge der vom Börsenverein beauftragten Gesellschaft für Konsumforschung zur Behebung der Misere klängen lustig, wäre die Lage nicht so ernst. Sie empfiehlt Society-Aktionen zur "besseren Bekömmlichkeit" der sperrigen Druckerzeugnisse, etwa "Whiskey Tasting" oder "Vino & Antipasti" bei Präsentationen. Von geistiger Anstrengung beim Lesen dürfe tunlich keine Rede sein, das Buch – am besten ein "Häppchenbuch" – solle als "Wellnessprodukt" überzeugen. Literaturkritik kommt in der Studie nicht vor; "Influencer" und "Großevents" sollen für die Verbreitung sorgen, zudem Textauszüge auf "Nutella, Müsli etc.".

Triumph der Simplifizierung

Erfolgreicher Populismus ist der Triumph der Simplifizierung. Unser Bildungssystem und unsere Medienentwicklung fördern ihn, indem sie auf Mephisto komm raus auf Vereinfachungen setzen und auf Quoten. Nein, es ist nicht geboten, das Publikum dort "abzuholen", wo es sich vorgeblich befindet – es ist vielmehr intellektuell zu fordern, ja herauszufordern. Die Behauptung, eine Diplomiertenrate würde per se den Kenntnisstand einer Bevölkerung attestieren, gehört zu den Trugschlüssen, die in den reichen westlichen Ländern zu einer prekären kulturellen sowie gesellschaftspolitischen Situation geführt haben.

Wie das vonstattenging, ließ sich ab Mitte der 1980er-Jahre im Frankreich des Mitterrand-Regimes erschreckend gut beobachten. Die Regierung bemühte sich weniger um tatsächliche "Chancengleichheit" als dass sie dekretierte: Innerhalb einiger Jahre müssten mindestens 75 Prozent eines Jahrgangs das "Bac" (die Matura) geschafft haben. Da jedoch weder ausreichend Mittel zur Verfügung gestellt noch bessere Bildungswege bereitet worden waren, half nur eine Methode: Man senkte die Anforderungen.

Nicht Kenntnisse und Fähigkeiten nahmen zu, sondern die Noten wurden angehoben. Diese Entwicklung führte (nicht nur in Frankreich) dazu, dass es heute im Gymnasium schwer möglich ist, durchzufallen. Nachdem die Bologna-Reform diesen Prozess verstärkt hatte, war die Akademikerquote erheblich gestiegen, das allgemeine Wissens- und Kompetenzniveau aber gesunken. Grosso modo erreichen Studierende heute nach sechs Semestern gerade einmal jenen Stand, der vor zwei, drei Jahrzehnten für die Matura verlangt war.

Inzwischen waren nicht nur die Anforderungen, sondern auch die Schwerpunkte und Kulturtechniken verändert worden: Einsatz und Befindlichkeit statt Analyse und Kritik, Bewertung des Arbeitsaufwands statt der Leistung, Pointillismus statt Überblick, Simulation von Wissen statt Durchdringung einer Materie, Ausreden statt Argumentationsfähigkeit. Damit ging eine wesentliche Verschiebung einher: Im Bildungs- und Ausbildungswesen haben die Administrationen über die Inhalte gesiegt, die Formen über die Aussagen.

Die gesamte, sich durch alle Bereiche der Gesellschaft ziehende Entwicklung erleichtert den Zugriff auf Konsumenten- und Wählerschaft. Es siegen Superlativ-Aufbauschungen und einfache Botschaften, strategisch günstig eingeschränkt auf wenige Themen. Es genügt, "Balkanroute" zu sagen. Es herrscht ein durch die mediale Sozialisation gestützter Populismus.

Anspruchsvolle Medien und komplexe Bücher sind ein probates Gegenmittel. Nur: Gekauft und gelesen müssten sie werden. (Klaus Zeyringer, 8.7.2018)