Locker sprintet Andrés Orozco-Estrada zum Termin im Dirigentenzimmer des Wiener Musikvereins. Der Maestro ist gerade zurück von einer China-Japan-Tournee mit dem hr-Sinfonieorchester Frankfurt. Der Musikverein ist einer seiner Herzensorte in Wien, hier wird er ab 2021/22 Chefdirigent der Symphoniker sein, ab 2020/21 mit ihnen als Designierter Chefdirigent zusammenarbeiten.

STANDARD: Wissen Sie, was Dirigieren in Ihrem Fall mit Segeln und Elementarteilchen gemein hat?

Orozco-Estrada: Was denn?

STANDARD: Sie bekamen 2014 die österreichische Ehrenstaatsbürgerschaft verliehen, gleichzeitig mit der polnischen Seglerin Jolanta Ogar und dem israelischen Quantenphysiker Haim Harari.

Als Dirigent überschreitet er mitunter Grenzen, aber darum geht es ja auch in der Musik, meint Andrés Orozco-Estrada.
Foto: Regine Hendrich

Orozco-Estrada: Stimmt, ich war allerdings gerade im Ausland und habe nur zufällig davon erfahren. Ich hatte lang davor eine Doppelstaatsbürgerschaft beantragt und war schon ganz verzweifelt, weil nichts weiterging. Die Zeremonie war dann in sehr kleinem Rahmen: nur die Beamtin, meine Frau, mein Anwalt und ich. Ich hatte sogar die Bundeshymne geübt, konnte aber den Text nicht ganz, und als mich die Beamtin fragte, ob ich singen mag, sagte ich: Nicht unbedingt ...

STANDARD: Obwohl Sie Chorsänger waren, im Wiener Singverein ...

Orozco-Estrada: Ja. Die Beamtin hat dann eine CD eingelegt und uns die Hymne vorgespielt. Wir standen auf, ich habe diese Erklärung vorgelesen – und das war's.

STANDARD: Ich möchte mit Ihnen übers Dirigieren, Musik und Grenzen reden. Sie nennen Österreich Ihre Heimat. Was ist mit Medellín in Kolumbien, wo Sie herkommen?

Orozco-Estrada: Ist auch meine Heimat. Man lehrt uns zwar etwas anderes, aber: Man kann ähnliche Gefühle mehrfach haben. Das Herz eines Menschen ist groß genug. Ich hatte als Dirigent immer zwei Engagements gleichzeitig, war bei den niederösterreichischen Tonkünstlern und Chefdirigent in San Sebastián, jetzt bin ich Chefdirigent in Frankfurt und in Houston. Auch wenn ich hier in Wien die Symphoniker leite, werde ich noch eine Zeitlang in den USA sein. Ich fühle mich in Wien jedenfalls so daheim wie in Kolumbien.

STANDARD: Ich frage auch, weil Grenzziehungen in Europa und im Amerika Trumps so aktuell sind.

Orozco-Estrada: Viel spannender als die geografischen Grenzen sind die, die man für sich selbst zieht. Ich habe viel Energie und Kraft, muss mir beim Dirigieren daher Grenzen setzen, mich manchmal bewusst bremsen, an Orchester, Komposition, Akustik, Stil anpassen. Das Aufregende ist, zu eruieren, wo die Grenze wirklich beginnt, denn sie muss nicht dort sein, wo es einem gelehrt wurde und wo sie alle vermuten. Man muss sich trauen, seinen Kopf über diese vermeintliche Grenze hinauszustrecken. Ich will wissen, bis wohin ich in der Musik gehen kann.

STANDARD: Haben Sie die Grenze je überschritten?

Orozco-Estrada: Als Dirigent bestimmt. Ich frage nach Konzerten meistens meine Frau: War es zu viel? War ich zu viel? Denn ich weiß, dass ich von null auf hundert aufdrehen kann wie ein Ferrari. Es gibt Orchester, die das sofort überfordert, und andere, die mitmachen. Es kann sehr schnell zu viel werden.

"Ich kann von null auf hundert aufdrehen", weiß der 40-Jährige, manche Orchester überfordere er damit.
Foto: Regine Hendrich

STANDARD: Einer Ihrer Professoren sagt, man habe Sie wie ein verrücktes Pferd zurückhalten müssen ...

Orozco-Estrada: Kann stimmen. Das hat mit meinem inneren Feuer zu tun, meiner Lust, etwas zu bewegen. Ich musste oft gegen meine eigene Natur kämpfen.

STANDARD: Weil wir bei der Geografie waren: Was ist das Bezeichnende am Publikum in Wien – vom ständigen Husten abgesehen?

Orozco-Estrada: Dass meist beim Piano gehustet wird, ist international. Die Wiener sind sehr dankbar und großzügig, wenn es ihnen gefällt. Sie sind stolz aufs Orchester, stolz, dass Wien Wien ist, musikalisch gesehen. Das Besondere hier ist, dass das Publikum viel versteht von der Musik – manchmal überschätzt es sich aber.

STANDARD: Auch Wiener sind halt die besseren Fußballtrainer.

Orozco-Estrada: Das ist generell eine Hauptstadtmentalität: Dort sind die Menschen, die alles besser wissen. Weil Wien so klein ist, spürt man es hier mehr.

STANDARD: Woran merken Sie, wenn Sie die Herzen der Zuhörer berühren?

Orozco-Estrada: Wenn es beim leisen Ausklingen eines Satzes noch still bleibt, sind wir verbunden. In Japan etwa war das Publikum superaufmerksam. Aber zwischen den Sätzen wurde auch gehustet, von Anfang bis zum Ende der Pause beinah synchron. Es wurde auch gemeinsam geklatscht, aber wenn der Dirigent auf die Bühne kam, hörte der Applaus in der Sekunde auf. Als hätte man einen Schalter umgelegt.

STANDARD: Japaner sind halt sehr diszipliniert ...

Orozco-Estrada: Und sehr respektvoll. Ich war neulich in Japan auf Tournee und wollte nach dem Konzert, in dem wir Mahler spielten, ein japanisches Lied als Zugabe spielen, ein Lied, das jeder kennt. Aber man hat mir abgeraten, das sei von der Qualität her nicht passend, weil nicht auf der Höhe von Mahler. Ich respektiere das als Grenze – aber ich hätte sehr gern gezeigt, dass es geht. Ich wollte dem Publikum nach Mahlers Fünfter, nach 70 Minuten Zuhören und großem Applaus, einfach etwas zurückgeben. Mit Qualität hat das nichts zu tun. Nach Mahler kann man sowieso nichts mehr spielen.

STANDARD: Weil Sie gerade dieses Volkslied erwähnt haben. Transportiert Musik nicht oft einen gar seltsamen Heimatbegriff?

Orozco-Estrada: Bei klassischer Musik besteht diese Gefahr nur in den eigenen Köpfen. Die Komponisten hatten keine nationalistischen Hintergründe, die wollten nur Musik. Politische Hintergründe hatten sie sehr wohl, nehmen Sie nur Beethovens Fidelio: Dessen politische Aussage war damals gültig, ist es heute und wird das noch in zehn oder hundert Jahren sein. Bei Popmusik oder neuerer Musik mit Text ist das etwas anderes, da wird oft sehr Peinliches transportiert. Aber jeder hat das Recht sich zu äußern, ob in Kolumbien oder ein Gabalier in Österreich. Man muss nur wissen, wo die Grenzen sind. Und: Wir müssen ja nicht zuhören.

STANDARD: Gibt es eigentlich ein Konzert, das Sie besser nie dirigiert hätten?

Orozco-Estrada: Naja, ein, zwei Konzerte gibt es schon, die nicht so gut liefen, aber das kann schon einmal passieren. Einmal, wir waren um die 15 Jahre alt, haben wir im Quartett gespielt – und jeder von uns hat von Anfang an die fasche Stimme gespielt, es war alles total durcheinander, völlig daneben. Aber es war ein modernes Stück, deshalb haben nur wir das gemerkt. Wir sind fast explodiert vor Lachen, haben aber bis zum Ende durchgehalten. Das war aber eben noch in Kolumbien, hier in Europa ist man zu seriös für so etwas. Aber vielleicht ändert sich das, ich glaube, die Leute hier werden lockerer und offener.

STANDARD: Europäer sind sehr ernsthaft. Schade, oder?

Orozco-Estrada: Ernsthaft sind sie, sehr schematisch, sehr quadratisch. Aber das kann auch oft gut sein. In meiner Ausbildung hier habe ich gelernt, als Dirigent, als Musiker sehr strukturiert zu denken, und das hat mir sehr geholfen und ist mir sehr wichtig.

STANDARD: Kann man mit Musik Grenzen, Konflikte überwinden? Das West-Eastern Divan Orchestra von Daniel Barenboim etwa besteht je zur Hälfte aus israelischen und arabischen Musikern.

Orozco-Estrada: Natürlich verbindet Musik. Aber es ist einfacher, sich hinzustellen und gemeinsam Musik zu machen, als historische Konflikte aus der Welt zu bekommen. Es reicht leider nicht zu sagen: Lasst uns gemeinsam die Neunte von Beethoven spielen. Das ist mit einzelnen Personen machbar – das sieht man bei diesem Orchester -, aber zu hoffen, Politiker müssten nur einmal eine Woche gemeinsam singen oder Fußball spielen und die Konflikte wären weg, wäre naiv.

STANDARD: Apropos: Sie wären gern Fußballer geworden, waren in Ihrer Jugend Tormann und Teamkapitän ...

Orozco-Estrada: Ja, man möchte es nicht glauben, weil ich ja nicht groß bin, aber die Tore waren damals auch kleiner (lacht). Das Springen und Fliegen gefiel mir, und ich habe es gemocht, vom Tor aus das Feld zu überblicken und die Mannschaft zu führen. Nicht wegen der Macht, die man da hat, sondern es ging darum, das Spiel zu gewinnen und dafür Qualitäten aus Leuten rauszubringen, die sie selbst gar nicht kennen. Genauso ist es beim Dirigieren. Vielleicht könnte ich auch Bürgermeister in einem Dorf, in einer kleinen Stadt sein?

STANDARD: Bürgermeister in Bogotá vielleicht?

Orozco-Estrada: Heutzutage könnte man schon darüber nachdenken, wenngleich die Politik in Kolumbien immer noch sehr korrupt ist. Aber man kann Politik auch anders machen, das hat man bei zwei, drei Parteien gesehen, die, trotz weniger Mittel, bei den kolumbianischen Wahlen jetzt gerade sehr viele Stimmen bekommen haben.

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So ruhig wie hier, vor dem Schleswig-Holstein Festivalorchester, steht der Maestro selten am Pult. Meistens fuchtelt er viel mehr herum.
Foto: AP/Malzahn

STANDARD: Sie haben als Kind imaginäre Orchester dirigiert, mit Fernsehantennen als Taktstock ...

Orozco-Estrada: Ja, habe ich alle abmontiert. Meinen Antennen-Taktstock würde ich gern patentieren lassen. War super. Heute dirigiere ich mit Fieberglastaktstöcken.

STANDARD: Fliegen die ab und zu ins Publikum, weil Sie so rumfuchteln.

Orozco-Estrada: Immer wieder fliegen die ab, erst unlängst in Japan ins Orchester zur zweiten Geige. Ist ein gutes Zeichen, bedeutet, dass ich nicht verspannt bin.

STANDARD: Noch kurz zurück: Ihre Mutter hat damals eine Psychologin konsultiert, die meinte: "Lassen Sie ihn." Sie gingen dann in eine Musikschule, studierten in Bogotá und ab 1997 in Wien. Was wäre aus Ihnen geworden, hätte die Psychologin gesagt: "Er spinnt"?

Orozco-Estrada: Gute Frage. Am Ende des Tages ist es egal. Hauptsache, man hat einen Beruf, für den man brennt. Ich bin kein besonderes Talent, kein Genie, ich gebe einfach alles und gehe über die Grenzen. Vielleicht hätte ich auch Politiker werden können, da gibt es viele Parallelen zum Dirigieren: Man muss Menschen bewegen, überzeugen, Projekte weiterführen, auch wenn viele dagegen sind.

STANDARD: Sie haben sich schon in Ihrer Jugend mit österreichischen und deutschen Komponisten beschäftigt. Sind Sie so gesehen musikalisch heimgekommen, als Sie Ihre Heimat verließen?

Orozco-Estrada: Ja. Wir haben schon in Medellín und Bogotá Mozart, Haydn, Beethoven gespielt ...

Stehplatz in der Staatsoper empfahl Student Orozco-Estrada Touristen – zulasten seines Einkommens.
Foto: APA/AFP/ Klamar

STANDARD: Damals hätten Sie nicht gedacht, dass Sie einmal im Mozart-Kostüm Touristen Konzerttickets verkaufen würden. Haben Sie getan, als Sie nach Wien kamen.

Orozco-Estrada: Ich habe damals Geld gebraucht und gelernt, dass man Menschen fast alles verkaufen kann. Da haben Touristen, die nicht einmal wussten, wer Mozart ist, diese sündteuren Tickets gekauft. Ich war dafür zu ehrlich und sagte ihnen: Wenn Sie hier in die Staatsoper auf Stehplatz gehen, zahlen Sie nur ein paar Euro, und es ist viel spannender. Ich habe den Job nur zwei Wochen gemacht, denn ich habe ja kaum was verkauft. Aber ich blieb ehrlich.

STANDARD: Was hat Sie damals an der Musikstadt Wien so gereizt?

Orozco-Estrada: Die Dualität von Wien: Hier die Philharmoniker, mit ihrer traditionellen Art zu spielen, in großem Ton und sehr romantisiert, und da der für mich neue Weg eines Nikolaus Harnoncourt: alles schlicht, transparent, schnellere Tempi, sehr artikuliert.

STANDARD: Barock- versus Designermöbel?

Orozco-Estrada: Könnte man so sagen. Was ist Stil? Das ist die Frage, die mich von jeher umtreibt, Musik ist schließlich eine Interpretationsfrage.

STANDARD: Werden Sie je eine Antwort finden?

Orozco-Estrada: Ich werde immer Antworten finden, aber ich werde wahrscheinlich nie so richtig glücklich sein damit. Die absolute Antwort, was richtig ist, gibt es in der Musik nicht. Das ist das Schöne: Ich kann mein ganzes Leben danach suchen.

STANDARD: Bei den Komponisten: Haben Sie da einen Angstgegner?

Orozco-Estrada: Nicht wirklich, aber es gibt welche, mit denen lasse ich mir Zeit. Eine Wagner-Oper würde ich gern einmal dirigieren. Aber bis ich seine Musik und seine Geschichten richtig verstanden habe, wird es noch dauern. Allein dieses alte poetische Deutsch ...

STANDARD: Muss der Dirigent auch den Text genau verstehen?

Orozco-Estrada: Nein, das ist wie beim Lesen fremdsprachiger Bücher: Man muss nicht jedes Wort verstehen, aber die Idee.

STANDARD: Stichwort Idee: Beim Verdi-Requiem müsse man die Todesnähe spüren, sagen Sie. Woran?

Orozco-Estrada: Bei solchen tief religiösen, fast mystischen Werken spürt man sie. Wenn wir auf der Bühne ein Requiem oder eine Messe spielen, geht es darum, sich selbst die Frage zu stellen: Glaube ich an Gott? Ja? Nein? Warum? Warum nicht? Brahms' Requiem ist ein wunderschönes Beispiel. Es ist zwar religiös, weil die Texte aus der Bibel sind, aber es geht darin ums Getröstetwerden, Menschen, die jemanden verloren haben, herauszubringen aus tiefer Trauer. Das will Brahms sagen. Und wir müssen bewirken, dass diese Gefühle durch unsere Kehlen, unsere Stimmbänder zu spüren sind. Das ist ein Moment, den man dann nicht mehr beschreiben kann, das ist übersinnlich.

Trauer um die Opfer des Bürger- und Drogenkriegs ist in Kolumbien alltäglich.
Foto: APA/AFP/ Sarmiento

STANDARD: Hat Musik etwas Göttliches?

Orozco-Estrada: Ja, wenn man unter göttlich versteht, dass man die Möglichkeit hat, Menschen zusammenzubringen, die Welt zu verschönern, Menschen aufzulösen. Ich habe Brahms' Requiem unlängst in Medellín aufgeführt und überlegt, wie es klingen würde, hätte Brahms es dort komponiert. In dieser Stadt, in der das Morden und Sterben so präsent ist und es gleichzeitig so viele Farben, so viele glückliche Menschen, so viel Energie gibt. Wie hätte Brahms das interpretiert? Diese Gedanken habe ich ins Konzert einfließen lassen. Um etwas für unsere vielen, vielen Opfer zu tun, hatten wir vor dem Konzert Besucher per Facebook gebeten, uns Fotos von Leuten zu schicken, die sie verloren haben, rund 300 Fotos kamen. Am Ende des Konzerts haben wir diese Fotos von den Verstorbenen über die Wände von unten nach oben projiziert. Sie müssen sich das vorstellen: Am Ende des Requiems siehst du deinen Bruder, deine Oma, deinen Freund vorbei in den Himmel gleiten. Es war eine Hommage an die Opfer und unglaublich. Alle haben geweint. Auch so kann man heutzutage Musik machen. Man muss sich nur trauen.

STANDARD: Stimmt es eigentlich, dass Dirigenten sehr alt werden? Manche sagen, das sei ein Mythos.

Orozco-Estrada: Das ist schon so. Es hat damit zu tun, dass man sich körperlich viel bewegt und geistig fit bleiben muss. Ein Dirigent kann nicht da vorn stehen und immer das Gleiche tun, Musik ist nie zweimal das Gleiche. Schon deswegen ist das Gehirn immer wach, und das ist ein Lebensmotor.

STANDARD: Liegt es nicht auch daran, dass Dirigenten eine Geschichte über Musik zu erzählen haben, die nie endet?

Orozco-Estrada: Dirigieren ist wohl auch eine Reise. Oft spielen alte Dirigenten Werke, die dafür prädestiniert sind auszudrücken: Das ist jetzt das Ende. Etwa Bruckners Neunte, unvollendete Symphonien oder Schubert-Messen.

STANDARD: Man dirigiert um sein Leben, bis zum Schluss?

Orozco-Estrada: Ich dirigiere um mein Leben. Dafür bin ich da.

STANDARD: Passt zur letzten Frage: Worum geht's im Leben?

Orozco-Estrada: Es geht darum, glücklich zu sein, seine persönlichen Utopien zu suchen und ihnen näherzukommen. Und dafür zwischendurch auch ein paar Grenzen zu überschreiten. (Renate Graber, 8.7.2018)