Jury-Mitglieder am Donnerstag, 5. Juli 2018, während des 1. Tags des Wettlesens um den Ingeborg Bachmann-Preis in Klagenfurt.

Foto: APA/GERT EGGENBERGER

Klagenfurt – Bei wem ist die Erleichterung größer? Bei den Kandidaten, die nun alle gelesen haben (und ihre Konkurrenten um die Preise besser einzuschätzen wissen)? Oder bei den Juroren, die sich nun keine Interpretationen und Deutungen mehr live vor der Kamera aus dem Ärmel schütteln müssen? Mit den vier letzten Autoren schloss am Samstag der Leseteil des heurigen Bachmann-Wettbewerbs.

Jakob Nolte machte dabei den Anfang und trug einen rätselhaften Text vor, der aber eher spannend sein wollte als spannend war. Sich selbst und des Lebens in Deutschland überdrüssig, hält Noltes Erzählerin sich an der mexikanischen Pazifikküste auf. Sie führt dort Tagebuch und erlebt zwischen Drogen und Mangroven vor allem nicht weniger Orientierungslosigkeit als zuhause.

Jakob Nolte dekonstruiert

Keller verwies auf zu viele Leerstellen und sprachliche Schwächen der Erzählung. Nora Gomringer fand Gefallen an einem geschilderten Traum der Erzählerin, in dem Sperma auf ihrem Körper zu Popcorn wird, das sie dann isst ("schönster Traum ever"), wurde sonst aber auch nicht warm damit ("eitel und selbstverliebt"). Hubert Winkels lobte genau die von Keller und Gomringer bekrittelten Fehler, meinte, der Text "dekonstruiert klassische Erzählformen auf allen Ebenen" und erklärte ihn gar zu einem "rührenden romantischen Großereignis".

Etwas gefasster ortete auch Insa Wilke in ihm ein Spiel mit Lesererwartungen. Klaus Kastberger gefiel seine Langsamkeit und Michael Wiederstein fand ihn gut, eben weil er "todlangweilig" ist. STANDARD-Redakteur Stefan Gmünder versuchte die Synthese der so unterschiedlichen Meinungen: "Ein Problem ist, dass gute Texte zum Teil schlechten näher sind als sehr guten."

Stephan Groetzner parodiert Österreich

Rätselhaft war anfangs auch Stephan Groetzners "Destination: Austria", entfaltete ab Seite sieben von 18 aber üppigen, bitterbösen Witz. Abwechselnd in "Gagausien, Haus der Kultur und Landwirtschaft" und "Tiraspol, Hotel Rossija" spielend, ist der Text gespickt mit Anspielungen auf Österreich. Es gibt darin Mädchen, die zur Hanfkönigin gewählt werden, und einen "Herr Professor Doktor Doktor Kaschperl", eine "Kornblumenrevolution" wird ausgerufen und die Einheimischen lehren die Fremden das Grauen. Das ist so absurd wie klug und amüsant. Und wird einmal als Roman erscheinen.

Eine "sehr schöne Parodie auf die Situation hier (im Land)", befand Wilke. Und das fanden nicht nur die meisten in der Jury, sondern auch viele unter den Saalzuschauern, was Wiederstein mit "Man hat im Publikum gelacht, aber verhalten, weil es geht ja um die eigene Heimat" kommentierte. Gomringer war vom Text "beeindruckt", Keller fand ihn "großartig", Gmünder hatte Groetzner eingeladen. Nur Kastberger und Winkels war der Beitrag zu "simpel" und in seinen Klischees zu "plakativ", gar "billig". Worauf Wilke konterte, oft seien bei Komik gerade die einfachen Mittel die schlagkräftigsten.

Özlem Özgül Dündar spart

An Mitteln tatsächlich sparte Özlem Özgül Dündar. Nämlich an Satzzeichen und Großschreibung. Sie verschnitt innere Monologe von vier Müttern, darunter einer, an deren Tür die Polizei klingelt und die sich ausmalt, was ihr Sohn angestellt haben mag, und einer, die mit dem Baby im Arm hoffnungslos aus einer brennenden Wohnung springt. Referenz des Textes ist ein rechtsradiksler Brandanschlag vor 25 Jahren in Solingen, der die vier Frauen biografisch verbindet – denn der Sohn der einen hat das Haus angezündet, in dem zwei der anderen Frauen verbrennen.

Kastberger fand den Text ohne das Wissen um diesen Bezug besser. Für Gomringer war er eine "Sprachwucht" und "furios". Einen "ganz tollen Text" hat auch Keller gehört. Wiederstein hingegen hatte den Text, als er ihn geschickt bekommen hat, weggeworfen, er ist ihm auch jetzt "zu explizit" und "redundant" und manchmal schief. Gut, dass seine Autorin ihn bei der Bewerbung an drei Juroren geschickt hatte. Wilke, die ihn nominiert hat, gab zu, mit mehr Diskussionswiderstand ihrer Kollegen gerechnet zu haben. Der Texte hätte sich auch mehr Widerworte verdient. Passagenweise erstickte er an sich selbst.

Jury über Lennardt Loß uneins

Der 1992 geborene Lennardt Loß aus Frankfurt machte als jüngster Starter des heurigen Jahrgangs den Abschluss mit einem ganz mühelos scheinenden und spannend gebauten Text: Ein Zahntechniker und ehemaliger RAF-Terrorist stürzt mit dem Flugzeug am Weg nach Argentinien ab. Er will sich dort eine einst eingefangene Polizeikugel aus dem Bauch operieren lassen, die ihn in Deutschland seiner kriminellen Vergangenheit überführen würde. Im Meer treibend erinnert er nun seine Geschichte. Sie reicht bis zurück zu seinem Zahntechnik-Ausbildner, der bei der SS war.

Das gefiel Wilke ("sehr elegant, gut geplottet"), Wiederstein ("rasant und hoch interessant") und Gomringer ("wenn schon, dann over the top!") wirklich gut. Auch wenn Keller sich vom vielen Rechercheaufwand dahinter beeindruckt zeigte, war ihr das Ergebnis zu "zusammengezwungen". Auch für Kastberger war der Text mit Nazis und RAF zu "überladen". Damit ging es Wilke anders: "Ich glaube schon, man findet in Deutschland einige Familiengeschichten, in denen solche Dinge zusammenkommen". Man blieb sich uneins. "Manchmal passen ein Text und ein Leser einfach nicht zueinander", sagte Gmünder, dem es leidtat, dass er obwohl er die Anlagen gut fand, am Ende auch nicht für ihn Partei ergreifen wollte.

Am Sonntag ab 11 Uhr werden die Preise vergeben. (Michael Wurmitzer, 7.7.2018)