Moskau – Ein heftiger Wolkenguss ist in der Nacht nach dem Viertelfinal-Krimi zwischen Russland und Kroatien in Moskau und Umgebung niedergegangen. 44 Millimeter, die Hälfte der Monatsnorm, fiel innerhalb weniger Stunden vom Himmel. Es scheint, als ob Petrus zusammen mit den russischen Fans das Ausscheiden der Sbornaja beweine.

Dabei hatte alles so gut begonnen: In der 31 Minute eröffnete Denis Tscheryschew den Torreigen. Mit einem Schlenzer in den Torwinkel schloss der pfeilschnelle russische Mittelfeldspieler von Villarreal einen Doppelpass mit Offensivpartner Artjom Dsjuba ab. Das Fisht-Stadion in Sotschi tobte, auf der Fanmeile in den Moskauer Spatzenbergen wurde es ohrenbetäubend laut. Schon Stunden zuvor hatten sich Fans aus der Umgebung mit Fahnen und Schals bewaffnet in die Hauptstadt aufgemacht, um das Event auf einer der vielen Großleinwände zu verfolgen.

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Bangen.
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Andrej Kramaric brachte die Zuschauer mit einem Kopfball kurz vor der Pause nach Zuspiel von Stürmerstar Mario Mandzukic zum Schweigen. Doch nur kurzzeitig. Auf dem Feld übernahm Kroatien zwar mehr und mehr das Kommando, die russichen Fans jedoch trieben ihre Mannschaft weiter an, die um jeden Meter kämpfte. Die spielstärkste Mannschaft ist die Sbornaja bei diesem Turnier nie gewesen – trotz der hohen Siege gegen Saudi-Arabien und Ägypten in der Vorrunde – aber Moral und Einsatz haben in jedem Match gestimmt. Im Achtelfinale gegen den haushohen Favoriten Spanien ließen sich die Russen trotz frühen Rückstands nicht hängen, kamen zum Ausgleich und schließlich zum Sieg im Elfmeterschießen.

Das haben die Fans honoriert: Der Glaube an die eigene Nationalelf ist während des Turniers immer weiter gewachsen. Vor dem Spiel gegen Kroatien glaubten immerhin schon 56 Prozent an das Weiterkommen. Die Begeisterung ging durch das ganze Land: In Alexandrow, einer Kleinstadt 100 Kilometer von Moskau entfernt, beispielsweise hatten sich zum Spiel mehrere tausend Fans vor einer Großleinwand am örtlichen Kino versammelt, um "ein weiteres Wunder" mitzuerleben. Als der Kroate Ivan Perisic in der zweiten Halbzeit den Innenpfosten traf, ging ein lautes Durchschnaufen durch die Menge. Dafür jubelten die weiter hinten am Lenin-Denkmal platzierten Zuschauer bei einem harmlosen Kopfball der Russen wenige Minuten später verfrüht, denn Danijel Subasic nahm ihn sicher auf. Wunsch und schon reichlich Bier waren hier offensichtlich Vater und Mutter des Gedanken.

Verzweifeln.
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Selbst die Führung der Kroaten durch Vida in der Verlängerung konnte die Stimmung nur kurzzeitig dämpfen. Trainer Tschertschessow an der Seitenlinie forderte die Zuschauer energisch zum Anfeuern auf. Und die Menge im Stadion, aber auch die Millionen Zuschauer an den Bildschirmen folgten der Aufforderung und peitschten das Team für einen letzten Sturmlauf nach vorn. Als Mario Fernandes auf Flanke von Alan Dsagojew in der 115. Minute – so wie Vida zuvor per Kopf – traf, hatte Russland seine WM-Mission eigentlich schon erfüllt. Sie hatten gekämpft bis zuletzt und den Favoriten getrotzt.

Die Lotterie Elfmeterschießen ging diesmal für die Sbornaja unglücklich aus. Im Stadion weinten nicht nur die Fans: Als Stürmer Dsjuba in den Katakomben im Interview den Fans seinen Dank für die Emotionen und Unterstützung aussprach, gingen seine letzten Worte in den eigenen Tränen unter.

"Ich bin trotzdem stolz auf unsere Mannschaft", sagt die Moskauerin Jelena. Zuerst sei sie sehr unglücklich gewesen, ihr Sohn sogar in Tränen ausgebrochen, doch nun, einen Tag nach der Niederlage, überwiege das Positive. "Der Trainer hat die Mannschaft sehr gut eingestellt", die Sbornaja mehr gezeigt, als ihr alle zugetraut hätten. "Moral und Kampfgeist haben gestimmt, nun wissen die Jungs, dass sie etwas können", zieht die 41-Jährige ihr WM-Fazit.

Trauern.
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Besser hätte es selbst Kremlchef Wladimir Putin nicht ausdrücken können, der auch beim Viertelfinale durch Abwesenheit glänzte und sich im Stadion in Sotschi durch Premier Dmitri Medwedew vertreten ließ. Einzelne Moskauer Politologen erklärten dies damit, dass Putin sich nicht mit einer von Experten prognostizierten Niederlage der Sbornaja assoziieren lassen wollte. Im Kreml selbst hingegen wird betont, dass Putin das Spiel geschaut habe. "Er hat mitgefiebert. Unsere haben in einem ehrlichen Superkampf verloren. Aber für uns sind sie Prachtkerle und Helden", weil sie auf dem Feld bis zum Umfallen gekämpft haben, sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow.

Zum Finale wird Putin als Gastgeber der WM im Moskauer Stadion Luschniki noch erwartet. Für viele Russen ist die WM allerdings nun vorbei. Das Interesse an dem Turnier dürfte spürbar zurückgehen. Der Stolz auf das Erreichte bleibt aber bestehen. Russland hat sich nicht nur als guter Gastgeber, sondern trotz fehlender Stars auch als gute Mannschaft erwiesen. Ist weiter gekommen als Messi, Ronaldo, Iniesta oder Kroos. Alles in allem ein Traumsommer, trotz der Niederlage. (André Ballin aus Moskau, 8.7.2018)