Favorisiert die Belgier im Halbfinale gegen Frankreich: Jean-Marie Pfaff.

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Eden Hazard (im Bild gegen Brasiliens Marcelo) ist nur einer von vielen Ausnahmekönnern im belgischen Nationalteam.

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STANDARD: Sie haben das Viertelfinale gegen Brasilien live im Stadion von Kasan erlebt. War es das vorgezogene Finale, wie Vincent Kompany vor der Partie gesagt hat?

Pfaff: Nein. Das spielt Belgien erst nächsten Sonntag. Unser Team hat aber gezeigt, dass es auf Augenhöhe mit den vermeintlichen Favoriten steht, und offenbarte zudem, was es auszeichnet: hohe spielerische Qualität und eine eingeimpfte Siegermentalität. Ich war und bin wirklich beeindruckt, aber keineswegs überrascht.

STANDARD: Dabei wäre Belgien beinahe im Achtelfinale an Japan gescheitert.

Pfaff: Unser Team erwischte in diesem Spiel einen schlechten Start und stand mit dem Rücken zur Wand. Die Japaner haben regelrecht wie Samurais gekämpft und verdienten höchsten Respekt. Aber in der zweiten Hälfte konnte man die qualitative Überlegenheit unserer Mannschaft erkennen, die zudem diesen unbändigen Überlebenswillen unter Beweis stellte. Im Nachhinein betrachte ich die Partie als wichtigen Prüfstein für den Turnierverlauf.

STANDARD: Wie haben Sie Rekordweltmeister Brasilien gesehen?

Pfaff: Ich hatte vor der Partie behauptet, dass ich die brasilianische Auswahl nicht als furchteinflößend ansehe. Viele fanden das anmaßend, ich fand es als eine nüchterne Betrachtung. Zudem gefällt mir die aktuelle Spielweise der Brasilianer nicht. Das hat nichts mit dem "Jogo bonito" gemein, das die Generation um Sócrates, Falcão und Zico fabrizierte, gegen die ich das Glück hatte zu spielen. Die Brasilianer besitzen individuelle Klasse, die sie bei vielen europäischen Vereinen Woche für Woche zur Schau stellen, aber in der Seleção klappt das Kollektiv anscheinend nicht.

STANDARD: Neymar stand im Fokus der Berichterstattung, nicht immer wegen seiner brillanten Fähigkeiten, sondern wegen seiner theatralisch wirkenden Showeinlagen. Wie haben Sie seine Auftritte gesehen?

Pfaff: Der Junge hat natürlich enormes Talent und einen phänomenalen Antritt. Er übertreibt aber immens bei jedem Foulspiel und lässt sich dann minutenlang behandeln. Dabei gehen die Schiedsrichter und die meisten Gegenspieler eher fürsorglich mit ihm um. Wenn ich bedenke, was früher Maradona oder Zico von ihren Bewachern auf die Füße bekamen, ist das jetzt Kinderkram. Es ist Zeit, dass Neymar erwachsen wird. Vielleicht hat er daraus seine Lehren gezogen.

STANDARD: Nun steht das Halbfinale gegen Frankreich bevor. Werden Sie es erneut live miterleben?

Pfaff: Ich habe bis jetzt sowohl die Zitterpartie gegen Japan als auch den Kracher gegen Brasilien im Stadion verfolgt. Insofern kann ich mich als Glücksmaskottchen bezeichnen. Diesmal bin ich aber verhindert. Ich bin jedoch zuversichtlich, dass die Roten Teufel auch diese Aufgabe mit Bravour meistern werden. Das soll nicht despektierlich gegenüber Frankreich sein. Die Franzosen haben bis dato ein gutes Turnier gespielt, aber ich sehe das Team von Trainer Martinez leicht favorisiert. Insofern besuche ich das Finale Belgien gegen England am 15. Juli in Moskau.

STANDARD: Wie haben Sie das frühe Ausscheiden der Deutschen und anderer vermeintlicher Favoriten, wie Argentinien oder Spanien, wahrgenommen?

Pfaff: Die Deutschen haben mich maßlos enttäuscht. Wahrscheinlich meinten sie, dass das Turnier in Russland für den amtierenden Weltmeister ein Selbstläufer wird, so wie sie das immer gewohnt waren. Zudem habe ich mangelnden Einsatzwillen und Behäbigkeit erkannt, ganz zu schweigen von der fehlenden Kreativität. Wenn man gegen spielerisch limitierte Südkoreaner kein Mittel parat hat, muss vieles im Argen liegen. Argentinien ist kein Team. Es sind lediglich zehn Spieler und Messi, von dem verlangt wird, die Kastanien aus dem Feuer zu holen. Diesmal war aber auch er ganz neben seiner Rolle. Die Spanier sind aufgrund der Trainerentlassung kurz vor Turnierbeginn aus dem Konzept geraten.

STANDARD: Sie haben als Aktiver zwei große Endspiele jeweils 1:2 verloren. Mit Belgien das EM-Finale 1980 in Rom gegen Deutschland, mit Bayern den Meistercup 1987 in Wien gegen Porto. Was nagt mehr?

Pfaff: Zweifelsohne das Finale mit den Bayern. Wir sind mit der falschen Einstellung nach Wien gefahren. Da sieht man einmal mehr, was Selbstgefälligkeit alles anrichten kann. Mit Belgien waren wir ja Außenseiter. (Dimitrios Dimoulas, 9.7.2018)