Franzosen essen gern Gänseleber, Belgier Muscheln mit Pommes.

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Umgekehrt ist es genauso, Geschmäcker müssen nicht unterschiedlich sein.

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"Es wird nicht leicht für uns. Aber auf jeden Fall ein Fest", sagt der Zeitungsverkäufer an der Place Jourdan in Brüssel. Die regionalen Blätter und Sportzeitungen sind seit Tagen immer schon früh am Morgen ausverkauft. Auch "Le Monde", das Pariser Weltblatt für Politik und Wirtschaft? "A cause du foot", erklärt der Mann.

Eine ungewöhnlich heiße Schönwetterzone dominiert gerade in Belgien, wo es sonst oft mehrmals am Tag regnet, auch im Sommer. "Le Football", Fußball, überschattet alles. Belgien und Frankreich im Halbfinale, und im Finale am Sonntag in Moskau wartet auf den Sieger dieser Partie möglicherweise England als Gegner um den goldenen Pokal.

Das ist das Szenario zum Abschluss der Fußball-WM, sofern die Briten im zweiten Halbfinale die Kroaten besiegen. So etwas hat man dies- und jenseits des Ärmelkanals noch nie gesehen.

Es ist also kein Wunder, wenn in diesen drei Nachbarländern, deren Hauptstädte mit Superschnellzügen und Eurotunnel verbunden sind, in diesen Tagen das ultimative Fußballfieber ausgebrochen ist. Von Brüssel nach Paris braucht man mit dem Thalys gerade einmal 80 Minuten. Man ist sich nahe.

Überall bereiten sich nicht nur die Fußballfans auf eine großartige Turnierwoche vor: in Pubs, auf öffentlichen Plätzen und Gehsteigen, auf denen TV-Geräte improvisiert aufgestellt werden. In vielen Privatgärten stehen die Grillgeräte "zum großen Fest" längst bereit. Auf Österreich umgelegt wäre das etwa so, wie wenn Ungarn, Tschechien und Österreich um den Einzug ins Finale spielten.

Historische Verwicklungen

Fußball ist ein Nationalsport, weckt große Emotionen bei den Fans. Die Länder, die die WM in Russland nun in der Endphase prägen, sind über Jahrhunderte historisch miteinander stark verwickelt, in Kriegen wie im Frieden. Das Königreich Belgien, das lange Zeit Teil von Frankreich und den Niederlanden und oft besetzt war (in Zeiten von Maria von Burgund sogar einmal zu Österreich gehörte), wurde erst 1830 in der heutigen Form gegründet und ist mit elf Millionen Einwohnern und einer Fläche von nur 30.000 Quadratkilometern dichtest besiedelt. Wenn es nun gegen Frankreich geht, kommt das einem Kampf David gegen Goliath gleich.

Das kann man lesen. "Ganz Belgien träumt mit den Teufeln", schreit etwa die in der Hauptstadt Brüssel erscheinende französischsprachige Zeitung "Le Soir" die Hoffnungen ihrer Landsleute hinaus. Vom "Match unseres Lebens", schwärmt das Massenblatt "DH". Die "Roten Teufel", so nennen die Belgier ihre ganz in Rot auftretende Equipe. Vor der letzten WM in Brasilien war sie noch eine bunte, junge, multikulturelle Truppe, mit Spielern, die ihre familiären Wurzeln ebenso im Kongo haben wie in Marokko oder natürlich im Stammland Belgien.

Der aktuelle Erfolg, die nationalen Hoffnungen, gehen daher weit über das Sportliche hinaus. Seit Jahrzehnten leidet das Königreich unter den Spaltungsdrohungen zwischen niederländisch geprägten Flamen im Norden und den französischsprachigen Wallonen im Süden. Die Mannschaft, die den Schlachtruf "He, he, tous ensemble, tous ensemble!" – "Alle gemeinsam!" – hat, weckt die Sehnsucht nach der Einheit. Sprachenstudien, Nord-Süd-Konflikt werden beim Match bedeutungslos.

Um nichts weniger gut ist die Stimmung im ebenso fußballbegeisterten Frankreich. Aber wie es halt so ist: Das Land ist sechsmal so groß wie Belgien, 1998 fand die Weltmeisterschaft in Frankreich statt, und der Gastgeber gewann in einem packenden Finale den Titel – Belgien war bereits in der Vorrunde ausgeschieden. Das Halbfinale hatten die Roten Teufel überhaupt erst einmal erreicht: vor 32 langen Jahren, gegen Russland bei der WM in Mexiko 1986. Es gab da eine Art Córdoba-Moment wie für Österreich in Argentinien 1978.

Das kleine Land zeigt es den Großen. So ist die Ausgangslage. Und so werden Belgier und Franzosen Dienstagabend vor den Fernsehern sitzen, begeistert, aber ohne Feindschaft. Denn jenseits der jeweiligen nationalen Klischees von "arroganten Franzosen" und den "provinziellen Belgiern", die in französischen Ohren einen sehr seltsamen Akzent haben, verstehen sich Franzosen und Belgier gut. "Man ist offen füreinander", sagt man in den Cafés in Brüssel, jenseits historischer Ressentiments.

Wechselseitige Öffnung

Das hat europapolitische Gründe. Nirgendwo in Europa hat die wechselseitige Öffnung im Rahmen der Europäischen Union Länder so zusammenrücken lassen wie Benelux und Frankreich, auch Deutschland. Hier wurden die Grenzkontrollen bereits vor 1995 probeweise abgeschafft. Brüssel ist mit einer Million Einwohnern klein, aber als Sitz von EU und Nato, vieler internationaler Konzerne und mit hunderttausenden Menschen, die aus der ganzen Welt stammen, eine kleine Weltstadt. Wie Paris. Wie London.

Die Offenheit füreinander hat aber vor allem auch kulturelle und kulinarische Gründe. Gutes Essen und Trinken, langes Zusammensitzen im Kreis der großen Familie oder im Freundeskreis genießen in Frankreich wie in Belgien einen sehr hohen Stellenwert. Was die Zahl der Restaurants betrifft, und da vor allem solche mit Gourmetstatus, muss Brüssel sich nicht hinter Paris verstecken.

Und so wird es wohl auch am Dienstag sein. Es wird riesige Emotionen geben bei "Le Match". Da in Belgien bereits die Schulferien begonnen haben, sind viele Belgier in Frankreich auf Urlaub. Man wird nebeneinander miteinander mitfiebern. Aber alle Erfahrung zeigt, dass das in der Regel fair abläuft. Als Frankreich 1998 Weltmeister wurde, da wurde auch in Belgien kräftig mitgefeiert.

Denn es gilt das Motto: "Es ist ja am Ende nur ein Spiel." Die Belgier starten mit einem Vorteil: "Wir sind Sieger, auch wenn wir das Spiel verlieren. Denn wir haben das Halbfinale erreicht", sagt ein belgischer Fan in Brüssel. Es klingt wie psychologische Kriegsführung. (Thomas Mayer aus Brüssel, 9.7.2018)