Cyprian Broodbank, "Die Geburt der mediterranen Welt. Von den Anfängen bis zum klassischen Zeitalter", € 45,30 / 952 Seiten. C.-H.- Beck-Verlag. München 2018

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Jürgen Elvert, "Europa, das Meer und die Welt. Eine maritime Geschichte der Neuzeit". € 46,30 / 592 Seiten. DVA, München 2018

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Am Anfang war nicht das Wort. Nicht das Licht. Am Anfang war die Furcht. Die Furcht vor der Weite, Tiefe und endlosen Dunkelheit in den Abgründen des Meeres.

Dessen erster Eindruck, so der französische Historiker Jules Michelet 1861 in Das Meer, sei Furcht. Und Schrecken. Nicht Herz und Geist erhebend, wie es die Philosophen des 18. Jahrhunderts beschworen hatten. Sondern handgreiflich bedrohlich. "Für alle auf dem Land lebenden Wesen", so Michelet, "ist das Wasser das nicht zu atmende, das erstickende Element schlechthin. Eine zeitlose, schicksalhafte Schranke, die unwiderruflich die beiden Welten voneinander scheidet. Verwundern wir uns nicht, wenn die gewaltige Wassermasse, welche man das Meer heißt, fremd und düster in ihrer nicht zu erschließenden Tiefe, der menschlichen Einbildungskraft, immer beängstigend erschien."

Doch Michelet kannte das Meer nur von der Küste her und von kurzen Segelfahrten die französische Atlantikküste entlang. Im Gegensatz zu Nietzsche, dem der Ozean als unerschöpflich und unzerstörbar galt, besaß er schon einen Sinn für die Gefährdungen des Meeres, für jene Störungen, die heute ökologisches Ungleichgewicht genannt werden. So schreibt er in seinem geschmeidig dahinrollenden Werk: "Die Ausrottung einer einzigen Art kann einen fatalen Eingriff in die Ordnung, in die Harmonie des Ganzen darstellen." Anfangs erschien ihm das Meer durchaus anders: "Ich empfand eine tiefe Trauer, als ich eines Tages am Meeresufer bei Le Havre meine kleine Tochter (sechs Jahre) Steine auf das Meer werfen sah; das Meer seinerseits warf ihr seine Wellen entgegen. Dieser Kampf zwischen dem Endlichen und dem Unendlichen, dessen Ausgang so unfehlbar ist, entlockte mir Tränen."

Adipöse Geschichtsbände

Über das Unendliche kann man wohl auch nur endlos schreiben. Siehe Herman Melvilles Moby Dick. Und in die Bibliothek adipöser Geschichtsbände gehören auch Die Geburt der mediterranen Welt und Europa, das Meer und die Welt. Beide Bände sind immens, immens umfangreich, immens gelehrt, ausufernd (Pardon) lehrreich und gut bis elegant geschrieben.

Cyprien Broodbank, Professor für Klassische Archäologie an der englischen University of Cambridge, legt eine Zivilisations-, Kultur-, Wirtschafts-, Religions- und Militärgeschichte der Frühzeit des Mittelmeerraums, für die er 2014 den Wolfson History Prize für das beste historische Buch des Jahres zugesprochen bekam. Zu Recht.

Denn auch wenn er auf Seite 79 erst bei den Dinosauriern ist, seine Darstellung des Entstehens, Aufblühens, Verzweigens, Instrumentalisierens des Mittelmeers zwischen dem Golf von Iskenderum nordöstlich von Zypern und Gibraltar ist geradezu ein Pageturner. Broodbank schreibt geistreich, spannend, ja verspielt witzig, andererseits zollt man ihm allergrößten Respekt für die intellektuell schier unfassbare Beherrschung eines derart breit aufgefächerten Riesenbündels an höchst unterschiedlichen Materien, Kulturen, Sprachen über Millionen von Jahren hinweg. Sein Schlusspunkt ist die Schlacht von Salamis 450 v. Chr. Wie er die "fraktalen Eigenschaften" (Broodbank) in eine einzige große Erzählung überführt, ist stupend. Auf Jahre hinweg dürfte dieser Band Standardlektüre sein, will man sich mit den ganz frühen Jahren mediterraner Zivilisation beschäftigen.

Herrsche und segle

Der englische Seefahrer Walter Raleigh meinte 1615: "Wer immer das Meer beherrscht, beherrscht den Handel; wer immer den Handel beherrscht, herrscht über die Reichtümer dieser Welt, also über die Welt selbst." Ganz am Ende der ausgreifenden Global- und Globalisierungsgeschichte Jürgen Elverts findet sich dieses Zitat, das zugleich dessen Kern ist. Der Kölner Historiker schreibt die Geschichte der Welt vom späten 15. Jahrhundert bis in die Gegenwart als Geschichte der Meere – als Austausch über die Ozeane hinweg.

In vier großen Kapiteln schreitet er beeindruckend viele direkte Meeresbereiche ab, und noch mehr jene, die mittelbar mit der See zusammenhingen: Technologie, Migrationsströme, Ozeanografie, Sklaverei, Fischereipolitik, Waren, die die Ernährung änderten wie die Kartoffel. Und ohne den Handel mit Schiffen wären Kaffee, Tee, Kakao in Europa nie so beliebt geworden. Elvert beschreibt Aufstieg und Niedergang seefahrender Nationen, analysiert Imperialismus, Handelskriege, Tourismus und maritime Moden. Marx hätte Das Kapital nie schreiben können, wenn maritimer Baumwollhandel Baumwolle verarbeitende Fabriken geschaffen hätte und so eine Industriearbeiterschaft. Vom Schreibtemperament schwerfälliger als Broodbank liest sich seine Globalgeschichte gut. Nur selten mutet sie wie eine Vorlesung, noch seltener als reiner Rapport an. Beide Bände sind zu schwer als Strandlektüre, sie bieten aber einen gewaltigen Blick auf gewaltige Meere. (Alexander Kluy, 11.7.2018)