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Wohin sind die Leser verschwunden? Die Antwort ist einfach: Weitaus häufger als ein Buch holen wir das Telefon aus der Tasche.

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Wer gern liest, der liebt die Buchstaben, die Zahlen eher weniger. Das gilt naturgemäß auch für die Verleger. Es kommt ja nur allzu selten vor, dass einer ihrer Titel auf der Bestsellerliste auftaucht – was ebenso in der Natur der Sache liegt wie in der Ungerechtigkeit der Götter –, aber was hilft’s? Die Buchstaben brauchen noch den interpretierenden und rätsellösenden Leser, die Zahlen hingegen sprechen für sich.

Zum Beispiel jene 6,4 Millionen Käufer in Deutschland, die im vergangenen Jahr ein Buch nicht gekauft haben – und es gibt leider keinen Anlass zu glauben, dass der Absatz in Österreich besser gelaufen wäre. Diese monströse Zahl belegt nicht nur den Verkaufsschwund (und so die Verluste der Verlage, Auslieferer, Buchhändler und Autoren), sondern das sich radikal vermindernde Interesse der lesefähigen Bevölkerung an Büchern.

Smartphone statt Buch

Wir wissen alle, wohin die ehemaligen Bücherleser abgewandert sind. Schließlich holen wir doch alle weitaus häufiger das Smartphone aus der Tasche als ein Buch. Ein Blick zeigt uns, dass durchaus gelesen wird, aber was? Noch sind die Konsequenzen dieser Vermittlungstechniken nicht abzusehen, aber dass sie gravierend sind, ist schon jetzt zu bemerken. Als die Erfindung von Gutenbergs die Vervielfältigungstechnik revolutionierte und den handbeschriebenen Papyrus hinter sich ließ, da waren die Folgen auch nicht gleich offenkundig.

Natürlich ist das Nutzen der vielfältigen Möglichkeiten zum Kontakt mit anderen ja an sich nichts Böses. Mensch will Mensch, dagegen ist nichts zu sagen, aber es ist halt immer nur ein Fetzen Mensch, den uns die kleinen Apparate liefern. Doch das System Mensch ist komplizierter als 1+1=2.

Oft ergibt eins und eins eben nur anderthalb; und das ist eine überaus komplexe und komplizierte Angelegenheit, die nicht mit ein paar kümmerlichen Alltagssätzen zu fassen, geschweige denn wiederzugeben ist. Denn dazu braucht es Literatur. Dazu braucht es Geduld, das Nachdenken, die Vielfalt der Sprache, der Form und der Schönheit.

Ich spreche von sogenannter Kunst. Ich rede von Texten mit Anspruch und Zumutung: Zeitfresser, Konzentrationserzwinger, Überlegenheitsdemonstrationen. Aber ebenso Seelenerschließer, Kopftrainer, Weltvorführer und Weltverführer. Sie können uns die Lust am anderen ebenso wie an uns selbst spürbar machen, sie klären und erklären, sie zücken das Schwert, und sie entzücken.

Sich nicht selbst im Stich lassen

Wer wollte sich das entgehen lassen? Ich denke, niemand; ich glaube, wer weiß, was Literatur kann, der lässt sie nicht im Stich, denn er weiß, dass er damit sich selbst im Stich ließe. Das Problem ist vielmehr, dass so viele es nicht wissen. Die einen fürchten sich vor der Kunst, weil sie tatsächlich (aber wahrlich nicht immer!) bisweilen nur schwer nachvollziehbar ist und ein gewisses Lesetraining verlangt.

Die anderen jedoch – und jetzt meine ich die kommenden Generationen – haben Eltern und Lehrer ebenso im Stich gelassen: Es gelingt offensichtlich immer weniger, den Nachpubertären den Zauber, die Heiterkeit und die Erfahrungsfülle der Literatur zu vermitteln oder gar schmackhaft zu machen.

Nun gut, von der Art von Literatur, von der ich gerade rede, reden wir nicht. Sie betrifft marktmäßig den geringsten und zähesten Teil. Was verlorengeht, sind diejenigen, die sich von Büchern nicht mehr angezogen, geschweige denn unterhalten fühlen, sondern nur noch angestrengt und gelangweilt. Und man kann ihnen – siehe etwa den abstrusen Zuwachs an Krimis in den Verlagsprogrammen – nicht einmal den Vorwurf machen, dass sie nicht versucht haben, ihr abendliches Amüsement so lange, wie es geht, mit Büchern zu versuchen. Aber Hip-Hop und R ’n’ B führten noch nie zu Bach oder Bartók.

Mit der Feder schreiben

Sie finden, das klingt alles eingebildet und elitär? Da hier noch ein wenig Platz ist, erlauben Sie mir, eine Geschichte nachzutragen, die für mich das Signal war für eine Veränderung, die ich vielleicht bis heute nicht richtig begriffen habe:

Es war am Anfang des neuen Jahrtausends; ich saß in der Oak Bar des Plaza Hotel an der Südecke des Central Park in New York, hatte mein kleines Moleskine-Notizbuch vor mir, den Bleistift in der Hand und notierte mir reiseüblich, was mir der Tag bis dahin beschert hatte. Auf einmal unterbrach mich ein soignierter Herr vom Nebentisch und fragte mich so freundlich wie neugierig: "Excuse me, Sir, but what are you doing there?" – "Well, I am writing." – "With a pencil?" – "With a pencil, yes." Dann hörte ich, nach einer ehrfürchtigen Pause, vom Nebentisch ein leises "Wow!".

In dem Moment fing für mich das neue Jahrtausend an und ließ mich hinter sich. Ich ahnte, dass der Punkt der Sache nicht mehr der Text und sein Inhalt war, sondern die Art und Weise, wie man ihn fixiert. Und was das für den Inhalt bedeutet. (Jochen Jung, 11.7.2018)