Demonstranten halten bei einer Kundgebung vor dem Oberlandesgericht Schilder mit Abbildung der NSU-Opfer.

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München – Nach den Urteilen im NSU-Prozess pochen Opfervertreter auf eine weitergehende Aufarbeitung der rechtsterroristischen Terrorserie in Deutschland. Gamze Kubasik, Tochter des in Dortmund ermordeten Mehmet Kubasik, forderte in den ARD-"Tagesthemen" eine "lückenlose Aufklärung", etwa zur Rolle des Verfassungsschutzes. Zugleich mahnte sie eine Offenlegung aller Akten zum NSU-Komplex an.

Mehr als fünf Jahre hat der Mordprozess gegen Beate Zschäpe und vier Helfer des "Nationalsozialistischen Untergrunds" gedauert. Am Mittwoch war die Hauptangeklagte Zschäpe wegen zehnfachen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt worden.

Mehrere Familien der NSU-Opfer hoffen nun, dass der deutsche Staat juristisch zur Verantwortung gezogen wird. "Wir möchten, dass ein Gericht in Deutschland feststellt, dass der Staat versagt hat", sagte die Anwältin der Familie des ersten NSU-Mordopfers Enver Simsek, Seda Basay, am Donnerstag in Berlin.

Abgehörte Telefonate

Als Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt 1998 untertauchten, sei das Trio per Haftbefehl gesucht worden, sagte Basay. Einzelne Verfassungsschutzämter hätten zu diesem Zeitpunkt den Aufenthaltsort der drei gekannt oder ihn feststellen können, weil Telefonate abgehört worden seien.

Allerdings hätten die Ämter ihre Informationen nicht an die Polizei weitergegeben. "Wenn man das gemacht hätte, 98 schon, dann hätte man vielleicht die Morde verhindern können", sagte Basay.

Die sogenannte Staatshaftungsklage wurde den Anwälten zufolge schon Ende 2016 beim Landgericht Nürnberg eingereicht und richtet sich gegen die Bundesrepublik sowie Thüringen und Bayern, die auf Schadenersatz verklagt werden.

Aktuell ruht die Klage gegen Thüringen, weil das Land laut Mehmet Daimagüler, der die Klage federführend betreut, Aufarbeitung versprochen hat. Drei Familien von NSU-Opfern haben sich der Staatshaftungsklage angeschlossen.

Lebenslange Haft für Zschäpe

Das Oberlandesgericht München hatte die Hauptangeklagte Beate Zschäpe am Mittwoch unter anderem des zehnfachen Mordes und der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung schuldig gesprochen. Es verurteilte die 43-Jährige zu lebenslanger Haft und stellte zudem die besondere Schwere der Schuld fest. Damit ist eine vorzeitige Haftentlassung nach 15 Jahren rechtlich zwar möglich, in der Praxis aber so gut wie ausgeschlossen. Ein Verteidiger Zschäpes kündigte an, Revision einzulegen. Auch Zschäpes vier Mitangeklagte bekamen als Helfer des "Nationalsozialistischen Untergrunds" (NSU) mehrjährige Haftstrafen.

Auch Politiker, Menschenrechtsorganisationen und Verbände kritisierten nach dem Richterspruch unter anderem, dass Ermittler Unterlagen vernichtet und Behörden die Aufklärungsarbeit erschwert hätten. Mehrfach kam der Vorwurf auf, die Bundesanwaltschaft habe sich zu sehr auf die These versteift, dem NSU hätten nur drei Menschen – Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt – angehört. Am Mittwochabend protestierten in mehreren deutschen Städten Tausende auf den Straßen, die Demonstrationen standen unter dem Motto "Kein Schlussstrich".

440 Verhandlungstage

Der NSU hatte über Jahre hinweg aus dem Untergrund heraus neun Gewerbetreibende türkischer und griechischer Herkunft sowie eine Polizistin ermordet. Darüber hinaus begingen Böhnhardt und Mundlos zwei Sprengstoffanschläge mit vielen Verletzten und mehr als ein Dutzend Raubüberfälle. Am Ende begingen sie Suizid. Zschäpe hatte mit beiden im Untergrund gelebt.

Eine der zentralen Fragen im Prozess war, ob Zschäpe als Mittäterin verurteilt werden kann, weil es keine Beweise gibt, dass sie an einem der Tatorte war. Richter Manfred Götzl betonte in seiner Urteilsbegründung immer wieder, Mundlos und Böhnhardt hätten "aufgrund eines gemeinsam gefassten Tatplans und im bewussten und gewollten Zusammenwirken mit Frau Zschäpe" gehandelt. Mit fast 440 Verhandlungstagen war es einer der längsten und aufwendigsten Indizienprozesse der deutschen Nachkriegsgeschichte.

Unvollständige Aufklärung bemängelt

Ein Nebenklage-Vertreter, Rechtsanwalt Mehmet Daimagüler, rechnete nicht mit einem Erfolg der angekündigten Revision. "Es handelte sich hier um einen Indizienprozess, und die Indizien haben eine sehr tiefe Verstrickung und Einbettung Zschäpes in allen Morden nachgewiesen", sagte er der "Rhein-Neckar-Zeitung" (Donnerstag). "Die These der Bundesanwaltschaft, dass es sich lediglich um ein Trio gehandelt habe, ist eine Illusion. Und sie ist für manche Menschen in diesem Land geradezu lebensgefährlich."

Der frühere Grünen-Vorsitzende Cem Özdemir mahnte in der "Passauer Neuen Presse": "Bundeskanzlerin Merkel hatte den Opfern damals vollständige Aufklärung versprochen. Das Versprechen ist bisher nicht eingelöst." Die stellvertretende Vorsitzende der Linken-Bundestagsfraktion, Sevim Dagdelen, sagte der Zeitung, zur Wahrheit gehöre, dass viele Akten durch Schreddern unwiederbringlich vernichtet und eine vollständige Aufarbeitung so behindert worden sei. "Die Schuld von Staat und Behörden ist keineswegs aufgearbeitet." Generalbundesanwalt Peter Frank hatte zuvor dem SWR gesagt, das Urteil sei ein Schlussstrich.

Der Wahlverteidiger Zschäpes, Hermann Borchert, sagte der "Bild"-Zeitung zur Zukunft der 43-Jährigen: "Es ist geplant, dass sie schon diesen August aus der JVA Stadelheim nach Aichach in die dortige JVA gebracht werden soll." Der Anwalt führte dafür Sicherheitsgründe an. In Aichach wolle Zschäpe dann auch arbeiten, einen entsprechenden Antrag habe sie aber noch nicht gestellt. "Sie wird dann wohl in der Schneiderei oder der Bäckerei arbeiten", so Borchert zu "Bild" (APA, 12.7.2018)