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Kleine Superhelden machen sich gern einmal die Hände schmutzig. Am besten auf dem Land – dort werden die Immunkräfte am effektivsten gestärkt.

Foto: Getty Images / Yuri Arcurs

Wer als Kind im Dreck spielt, bekommt seltener Allergien oder Asthma. Diese Darstellung ist überspitzt, aber fast jeder hat schon einmal davon gehört. Sie basiert auf der sogenannten Hygienehypothese, die der britische Arzt David Strachan Ende der 1980er-Jahre postulierte, um die starke Zunahme von Allergien, Asthma und Ekzemen zu erklären. Durch hygienischere Lebensbedingungen und kleinere Familiengrößen mit wenigen Geschwistern haben Kinder weniger Kontakt mit Keimen und machen weniger Infektionen durch. Strachan ist zusammen mit anderen Forschern davon überzeugt, dass das Immunsystem dadurch unzureichend trainiert und anfälliger wird.

Die Hygienehypothese wurde später mehrfach erweitert, zum Beispiel um den Einfluss von Umwelt- und Lebensstilveränderungen auf das Immuntraining und auf die Entstehung überschießender Immunreaktionen wie Allergien. Neue Ergebnisse zeichnen ein genaueres Bild davon, welche Aspekte der Hygienehypothese gut belegt sind und welche sich nicht erhärten ließen.

Als gut gesichert gilt zum Beispiel der positive Einfluss des Landlebens. Zahlreiche Studien bescheinigen auf Bauernhöfen aufwachsenden Kindern bedeutend weniger Allergien. Hier hat wohl auch die Dreckmetapher ihren Ursprung, die den Kontakt von Bauernhofkindern mit Stalltieren und den dort vorkommenden Mikroben meint. Dieser Kontakt ist in den ersten Lebensjahren und besonders im allerersten entscheidend, denn in diesem Zeitfenster wird das Immunsystem durch neue Substanzen trainiert.

Kindergarten am Bauernhof

Ein deutsch-amerikanisches Forscherteam untersuchte dafür 2016 in den USA Schulkinder aus den stark auf Landwirtschaft basierenden Religionsgemeinschaften der Amischen und Hutterer. Die Hutterer-Kinder erkranken fast viermal so häufig an Asthma und haben fünfmal so häufig Allergien, schreiben die Autoren im New England Journal of Medicine. Ihre Gemeinschaft nutzt moderne Landmaschinen und wohnt weiter weg von den Viehställen, während die Amisch-Gemeinschaften traditionelle Landwirtschaft wie im 19. Jahrhundert betreiben und neben den Ställen wohnen.

Um denselben Effekt zu erreichen, genüge es aber nicht, jedes Jahr drei Wochen Urlaub auf dem Bauernhof zu machen, sagte die an der Studie beteiligte Asthmaforscherin Erika von Mutius von der Ludwig-Maximilians-Universität München in einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Kindergärten auf dem Bauernhof seien dagegen durchaus "eine hervorragende Idee". "Wichtig ist dabei, in welchem Kontext die Kinder diesen Stoffen begegnen. Lernt das Immunsystem etwa Pollenkörner zusammen mit Substanzen aus dem Stall kennen, nimmt es sie nicht als Bedrohung wahr", sagt die Allergieforscherin Gabriele Gadermaier von der Universität Salzburg. Ganz anders sei die Wirkung dagegen, wenn es mit den Pollenkörnern etwa auch auf Feinstaub trifft.

Komplexer ist das Bild dagegen, wenn es um die Einflüsse der hygienischen Verhältnisse in unserem Lebensstil geht. Einerseits waren die Veränderungen in den Städten – wie die Verfügbarkeit von sauberem Trinkwasser, weniger Kontakt zu Pferden und das Tragen von Schuhen auch in armen Bevölkerungsschichten -, die Wurminfektionen verhindert haben, Jahrzehnte vor dem rasanten Anstieg der Allergien vollzogen, sagt Thomas Platts Mills von der University of Charlottesville in Virginia. Die Verbreitung von Teppichen und damit der Kontakt mit Hausstaubmilbenkot hätten allerdings die Asthmazahlen wahrscheinlich gesteigert.

Übertriebene Hygienestandards

Schädlich seien auch die übertriebene Sauberkeit in den Haushalten und das zu häufige Baden von Babys mit Seifenprodukten, sagt Allergieforscherin Gadermaier. Die Seifen können die Hautbarriere schädigen und das Eindringen von Allergenen und Schadstoffen erleichtern.

Entscheidend für ein gesundes Immunsystem sei darüber hinaus eine große Vielfalt der Bakterien, die auf und in uns wohnen. Das Anlegen dieser Vielfalt beginnt laut Gadermaier schon bei der Geburt und falle geringer aus, wenn Kinder zum Beispiel per Kaiserschnitt zur Welt kommen und nicht bei einer natürlichen Geburt mit den Bakterien der Vaginalschleimhaut eingeschmiert werden. Flaschennahrung statt Stillen führe ebenfalls zu einer anderen Zusammensetzung. Und auch eine hochdosierte Antibiotikagabe kann "zu einem Kahlschlag im Darm führen. Beim Wiederbesiedeln kommen dann nicht mehr alle Bakterien durch."

Nicht zuletzt hängen die Reaktionen des Immunsystems von angeborenen und nach der Geburt erfolgten Mutationen ab. Sie können nicht nur eine Neigung zu Allergien bedeuten, sondern unter bestimmten Umständen zu weit ernsteren Erkrankungen führen. Zum Beispiel zu einer häufigen Unterform der nur bei Kindern auftretenden akuten lymphoblastischen Leukämie (ALL). Die Krankheit ist zu 90 Prozent heilbar, tritt aber von Jahr zu Jahr häufiger auf. Eine Rolle dabei spielen wohl eine zu geringe Immunprägung und bestimmte Infektionen.

Schutz vor Kinderleukämie

Wie Melvyn Greaves vom Londoner Institute of Cancer Research in einem im Mai erschienenen Wissenschaftsartikel im Fachjournal Nature Reviews Cancer schreibt, entsteht ALL in einem zweistufigen Prozess. Im ersten Schritt kommt es noch im Mutterleib zu Mutationen von Onkogenen, die zu einer ALL-Neigung führen. Ein weiterer, seltener Mutationsschritt tritt nach der Geburt auf und wird durch eine überschießende Immunantwort auf eine meist banale Infektion wie eine Erkältung ausgelöst – wenn das Immunsystem des Kindes in den ersten Lebensjahren durch mangelnden Kontakt mit krankmachenden, aber auch nützlichen Bakterien Trainingsdefizite hat. Es kann zu weiteren Mutationen und schließlich zum Krebsausbruch kommen.

"Die Rolle von Infektionen bei der Entstehung von ALL wird seit fast 100 Jahren diskutiert. Greaves' Verdienst ist, dass er die teilweise widersprüchlichen Aspekte der Hypothese aufgelöst und neue Belege für das Zusammenwirken der Auslöser präsentiert hat", sagt Renate Panzer-Grümayer vom St.-Anna-Kinderkrebsforschungsinstitut in Wien. Weniger als ein Prozent aller Kinder werde mit der ersten Mutationsstufe geboren. Wiederum nur ein Prozent von ihnen erkranke später.

Greaves hofft, dass eine Art Impfung etwa durch probiotische Stoffe, die die Darmflora und damit das Immunsystem stärken, die Leukämie in vielen Fällen verhindern könnte. "Wir gehen davon aus, dass sich ALL größtenteils vermeiden lassen wird, indem wir die normale Bakterienzusammensetzung im Darm von Säuglingen wiederherstellen", sagt Greaves. Dafür will er im ersten Schritt in Mausmodellen mit ALL herausfinden, welche nützlichen Bakterien oder probiotischen Rezepturen das bewirken können, und sie dann auch in großen Studien mit mindestens 100.000 Säuglingen testen. Es heißt also noch abwarten, bis klar ist, welche Heldentat Schmutz hier bewirken kann. (Veronika Szentpétery-Kessler, 14.7.2018)