Außerhalb der astronomischen Fachwelt hat wohl niemand bemerkt, was sich am 22. September 2017 am Südpol abgespielt hat. Das Ereignis war auch äußerst schwer zu fassen: Ein Neutrino – also eines jener rätselhaften Elementarteilchen, die als Bestandteile der kosmischen Strahlung fortwährend auf die Erde hageln – konnte mithilfe eines aufwendigen Experiments aufgespürt werden.

Aber nicht nur das: Durch eine unverzüglich in Gang gesetzte Beobachtungskampagne von mehr als einem Dutzend Observatorien auf der Erde und im All konnte der Weg dieses einen Neutrinos bis zu dessen Ursprung zurückverfolgt werden. Wie ein internationales Forscherteam in "Science" berichtet, liegt die Quelle dieses Teilchens in einer fast vier Milliarden Lichtjahre entfernten Galaxie: Es ist ein gigantisches Schwarzes Loch im Sternbild Orion.

Künstlerische Darstellung des aktiven Galaxienkerns, aus dem ein Neutrino zur Erde gelangte. Forscher konnten diese Reise nachvollziehen.
Illustration: DESY/Science Communication Lab

Neuer Blick ins All

Noch nie zuvor ist eine solche Zuordnung gelungen. Die neuen Ergebnisse könnten nicht nur ein Schlüssel zum besseren Verständnis dieser exotischen Teilchen sein, sie sind auch ein wichtiger Schritt zu einer neuen, umfassenderen Art der Astronomie. "Die Beobachtung kosmischer Neutrinos erlaubt Einblicke in Vorgänge, die bislang unsichtbar waren", sagt Klaus Helbing von der Bergischen Universität Wuppertal, der an der Arbeit beteiligt war.

Neutrinos zählen zu den häufigsten Elementarteilchen überhaupt, sind gleichzeitig aber äußerst rätselhaft. Unablässig bombardieren sie in unvorstellbarer Zahl unseren Planeten und auch uns selbst. Besser gesagt: Sie durchrasen uns, denn diese massearmen, elektrisch neutralen Teilchen durchdringen Materie nahezu ungehindert. Für uns ist das folgenlos, für die Wissenschaft ein Segen: Weil sie sich eben durch nichts aufhalten lassen, flitzen sie durch Sterne, Planeten und ganze Galaxien hindurch und erreichen uns als Zeugen astronomischer Ereignisse, von denen keine elektromagnetischen Wellen zu uns gelangen können.

Blick auf das Icecube South Pole Neutrino Observatory am Südpol.
Foto: The IceCube Collaboration

Allerdings sind sie auch genau aus diesem Grund extrem schwer zu messen. Auf dem Südpol machen sich Forscher seit einigen Jahren im Icecube South Pole Neutrino Observatory den Effekt zunutze, dass Neutrinos mit Atomen im eis interagieren können. Kommt es dazu, entstehen geladene Teilchen, die Licht erzeugen – und das kann gemessen werden.

Alarmmeldung

So geschehen auch am 22. September des Vorjahres. Jenes Neutrino, von dem hier die Rede ist, hatte eine Energie von etwa 300 Teraelektronenvolt – das ist mehr als 40-mal so viel, wie die Protonen im größten Teilchenbeschleuniger der Welt am Cern in Genf erreichen. Diese enorme Energie zeigte, dass das Teilchen von einem fernen Himmelsobjekt stammen muss: Energiereiche Neutrinos entstehen nach heutigem Wissensstand als Nebenprodukte in "kosmischen Teilchenbeschleunigern" wie Materiejets von Schwarzen Löchern oder explodierenden Sternen.

So sehen die Signale des Neutrinos vom 22. September 2017 aus, die am Südpol aufgezeichnet wurden. Die Farbe markiert die Zeit (von Rot über Grün nach Blau), die Größe die Helligkeit des Signals in den individuellen Sensoren.
Foto: The IceCube Collaboration

In der Hoffnung, die Herkunft des Neutrinos klären zu können, wurden umgehend zahlreiche Observatorien alarmiert, in die Richtung zu blicken, aus der das Teilchen herangerast war. Die infrage kommende Himmelsregion wurde quer durch das elektromagnetische Spektrum untersucht – mit Erfolg: "Wir haben eine aktive Galaxie gesehen, eine große Galaxie mit einem riesigen Schwarzen Loch im Zentrum", sagte Marek Kowalski, Leiter der Neutrino-Astronomie beim Deutschen Elektronen-Synchrotron (Desy). "Das ist ein Meilenstein, wir öffnen damit ein neues Fenster in das Hochenergie-Universum."

Kein Einzelfall

Der beobachtete aktive Galaxienkern, ein sogenannter Blazar mit der Katalognummer TXS 0506+056, befindet sich im Sternbild Orion, knapp vier Milliarden Lichtjahre von der Erde entfernt. Die Neutrinoquelle dürfte ein Jet gewesen sein, der ins All hinausschoss, als das Schwarze Loch Materie verschlang. Dieser Ausbruch des Blazars konnte auch mit anderen Beobachtungen nachgewiesen werden – von der Radiostrahlung bis zur Gammastrahlung.

Freilich war das Neutrino von dort nicht allein unterwegs zum Südpol: In einer zweiten, nun ebenfalls in Science veröffentlichten Studie identifizierten die Forscher in ihren Datenarchiven zahlreiche weitere Neutrinos, die in den vergangenen Jahren offenbar ebenfalls aus der Richtung von TXS 0506+056 gekommen waren. Die Forscher hoffen, durch derartige Ereignisse künftig noch besser ins Universum blicken zu können. (David Rennert, 12.7.2018)