Rechtspopulisten fordern dichte Außengrenzen. Dass den Arbeitern in Europa dadurch geholfen wird, bezweifelt Davide Cantoni.

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Populistische Parteien sind in Europa auf dem Vormarsch. Darin, wie man sie stoppen kann, sind sich Experten uneins. Manche sagen, dass abgeschottete Außengrenzen helfen würden. Migration würde dadurch gestoppt und den Rechtspopulisten Argumente abhandenkommen. Andere sehen in wirtschaftlichen Faktoren wie Arbeitslosigkeit den eigentliche Nährboden von Populismus. Davide Cantoni, Professor für Wirtschaftsgeschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München, glaubt, dass man nur mit Aufklärung dagegenhalten kann. Er plädiert für Informationspolitik.

STANDARD: Warum wählen so viele Menschen populistische Parteien?

Cantoni: Dass Globalisierungsverlierer oft extrem wählen, ist gut belegt. Weltweiter Handel produziert Gewinner und Verlierer und mit Verlierern auch Rechtswähler. Ob Arbeiter durch Migration verlieren, ist unklar – vieles spricht dagegen. Wer in den letzten Jahren nach Europa gekommen ist, ist meist noch gar nicht in den Arbeitsmarkt eingetreten. Das heißt aber nicht, dass viele Leute nicht Angst hätten, dass Migranten ihnen Jobs oder Sozialleistungen wegnehmen.

Die österreichische Regierung passt für Davide Cantoni in dasselbe Schema wie die konservativen Regierungen in den USA, England und Italien. Solche würden immer den Schulterschluss mit der Arbeiterschicht suchen, um dann ökonomische Interessen durchzusetzen.
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STANDARD: Trotzdem treibt die Furcht Wähler ins rechte Lager.

Cantoni: Klar, solche Befürchtungen spielen eine große Rolle in der Erklärung von Wahlverhalten. Aber die meisten empirischen Untersuchungen konnten keine negativen Auswirkungen von Migration auf Beschäftigung oder Löhne in Europa oder den USA nachweisen. Das ist wichtig zu wissen. Es gibt nämlich Studien, die zeigen, dass Menschen ihre Angst vor Migration teilweise ablegen, wenn sie mit diesen Fakten konfrontiert werden.

STANDARD: Viele Leute misstrauen eher der Wissenschaft als ihrem Unbehagen gegenüber Migranten.

Cantoni: Die Skepsis gegenüber den Eliten ist ein riesiges Problem, evidenzbasierte Politik ist heute sehr schwierig zu machen. Ich sehe aber keine bessere Lösung. Es gab immer schon Bewegungen, die sich gegen die Eliten gestellt haben. Ihre Anführer waren meist sehr gut ausgebildet. Das ist auch heute so: Egal ob Republikaner, Tories, AfD oder FPÖ – die Eliten rekrutieren sich nicht aus den Leuten, die diese Parteien wählen.

STANDARD: Bei der Fünf-Sterne-Bewegung in Italien ist das anders.

Cantoni: Gutes Gegenbeispiel. Die Führung der Fünf-Sterne-Bewegung zeigt ein erschreckendes Niveau an Ignoranz. Aber zum Regieren brauchen sie die Lega, also eine Partei, die sehr gut ins beschriebene Spektrum passt. Die Lega holt ihre Stimmen mit Populismus, macht aber Interessenpolitik für die Industrie in Norditalien.

STANDARD: Passt die österreichische Regierung in dieses Schema?

Cantoni: Ja. Österreich hat eine klassische konservative Regierung. Sie nutzt die Angst vor Migration als Hebel, um einen Teil der Arbeiterschicht als Wähler zu gewinnen – dann aber knallharte ökonomische Interessen zu vertreten. Strukturell waren die Konservativen als Vertreter der Eliten immer schon in der Minderheit, sie brauchen den Schulterschluss mit niedrigeren Schichten.

"Eine klassische konservative Regierung": Vizekanzler Heinz Christian Strache (FPÖ, links) und Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP).
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STANDARD: Welche Stellschrauben kann die Politik drehen, um rechtes Gedankengut zu bekämpfen?

Cantoni: Globalisierungsverlierern ist schwer zu helfen. Praktisch geht es meistens schief, wenn man Arbeitsplätze mit Subventionen oder Überbrückungsmaßnahmen zu retten versucht. Solche Maßnahmen können politisch missbraucht werden und setzen oft falsche Anreize. Zudem sind Weltanschauungen auch auf kleiner regionaler Ebene extrem persistent. Städte, in denen vor 700 Jahren Juden verfolgt wurden, sind auch heute oft sehr antisemitisch – sogar wenn dort gar keine Juden mehr wohnen.

STANDARD: Wollen Sie damit sagen, dass ohnehin nichts hilft?

Cantoni: Nein: Bildung, Mobilität und Offenheit helfen. Städte, die nach dem Zweiten Weltkrieg besonders viele Heimatvertriebene aufgenommen haben, waren später weniger bereit, rechtsradikale Parteien zu wählen. Wo der Ausländeranteil größer ist, ist die Furcht vor Migration geringer. Es gibt viel wissenschaftliche Evidenz dafür, dass Kontakt mit Migranten Ängste mindert. Städte, die historisch gesehen offen für Handel und Austausch waren, wurden über die Zeit weniger antisemitisch. Deshalb ist Informationspolitik so wichtig. Politische Meinungen überleben strukturelle Maßnahmen. Das gilt nicht nur für Antisemitismus, sondern genauso für die Rolle der Frau oder Xenophobie.

STANDARD: Woran liegt das?

Cantoni: Wir wissen oft nicht, woher solche Ansichten kommen, aber die Forschung zeigt, dass sie extrem persistent sein können und sich mit einem geänderten ökonomischen Umfeld höchstens langsam verändern. Das gilt auch für Grundüberzeugungen: Umfragen zeigen, dass Bürger in Europa heute in Summe nicht konservativer als in der Vergangenheit sind, die Zahl der xenophoben Menschen hat sich nicht verändert. Was es gegeben hat, sind politische Innovationen beispielsweise im Bereich der Kommunikation. Menschen werden anders angesprochen als in der Vergangenheit. Das kann den Erfolg der Rechtspopulisten bei gleichbleibenden Grundüberzeugungen erklären.

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US-Präsident Trump hat den Umgang mit neuen Kommunikationskanälen perfektioniert. Über Twitter erreicht er seine Wähler vorbei an den klassischen Medien.
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STANDARD: Wie kann Europa den Populismus stoppen?

Cantoni: Es braucht Institutionen, die unangenehme Entwicklungen abfedern können. Das europäische System mit seiner Ausrichtung auf Handel und Mobilität war über die letzten 70 Jahre enorm erfolgreich. Leider ist es besonders gefährdet, in einer Abwärtsspirale von Populismus und Partikularinteressen zerstört zu werden. Wenn die Menschen merken, dass auch außerhalb des bisherigen Konsenses kurzfristig erfolgreiche Politik möglich ist, steht das europäische Gefüge irgendwann infrage. Länder wie die USA oder China wissen das und versuchen teilweise, die Europäer gegeneinander auszuspielen. Das kann zu einem völlig neuen politischen Konsens führen, von dem man nicht leicht wieder wegkommt. (Aloysius Widmann, 13.7.2018)