Trägt seine Thesen mit tödlichem Ernst, viel Pathos und moralisch erhobenem Zeigefinger vor: Michel Onfray.

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Michel Onfray bietet eine wortgewaltige und polemische Geschichte des Christentums bis in die katastrophale Gegenwart, die von Nihilismus, Untergang und Zerstörung gekennzeichnet sei. Auf seine eigene, ungewollte Art ist dieser "philosophische Höllenritt" (Le Point) wieder lustig und unterhaltsam, auch wenn Onfray seine Thesen mit tödlichem Ernst, viel Pathos und moralisch erhobenem Zeigefinger vorträgt. Oder gerade deshalb.

Die Hauptthesen lauten: Europa sei tot, es drohe der Untergang durch den radikalen Islamismus, vor allem aber aufgrund eigener Schwäche und nihilistischer Haltungen. Kulturen seien ein ewiger Aufstieg und Niedergang, am Ende stehe der Verfall und das Nichts. Als bekennender Atheist behauptet Onfray, dass jede Kultur ihre Kraft "stets aus der Religion" schöpfe, "von der sie legitimiert wird". Belege für diese Thesen gibt es keine, sie werden als Wahrheiten verkauft, an denen es "keinen Zweifel" geben kann.

Europa sei tot

Auf fast 700 Seiten erzählt Onfray mit viel Lust an "sex and crime" vor allem eine Gewaltgeschichte des Christentums. Am Ende mischt sich in die Verachtung auch so etwas wie Bewunderung über die Vitalität dieser Weltreligion, die immerhin den Respekt für das Individuum in die Welt gebracht habe. Für gegenwärtige Christen hat Onfray dann wieder nur Verachtung übrig: Sie duzen Gott, verwässern die Dogmatik und bemühen sich um Nächstenliebe, was angesichts eines radikalen Islam wieder dumm ist. Ähnlich schlecht weg kommen die 68er-Linken, in Onfrays Darstellung eine Ansammlung pädophiler Nihilisten, die die letzten Restbestände der christlich geprägten Kultur zerstörten und "keinen einzigen neuen Wert" hervorbrachten.

Was ist daran unterhaltsam? Der Rezensent begab sich beispielsweise sehr bald auf die Suche nach Widersprüchen. Zum Beispiel: Onfray bezeichnet sich selbst als Empiriker, also als jemanden, der sich nur an die Erfahrung und an Tatsachen hält. Andererseits vertritt er eine materialistische Ontologie, einen Vitalismus, Fatalismus und Determinismus und weiß genau über die Zukunft des Planeten Bescheid – ist das nicht alles metaphysisch? Was hat das noch mit Erfahrungswissen zu tun? Skeptisches Hinterfragen dieser Art ist aber offensichtlich etwas für dekadente Nihilisten, die in der Spätphase der abendländischen Kultur Europa dominieren. Onfray aber ist selbsternannter Prophet und Alleswisser, der sogar das "Gesetz alles Seienden" erkannt und durchschaut hat.

Onfray gründete 2002 in Caen die "Université Populaire", sein Buch ist aber eher ein Beitrag zur Volksverdummung. Ist das nicht widersprüchlich? Nach der Lektüre des Buches fürchte ich mich nicht vor dem Untergang des Abendlandes, der offensichtlich seit der Reformation in regelmäßigen Abständen verkündet wird, sondern davor, dass dogmatische Propheten des Niedergangs wie Onfray bei zu vielen naiven Leserinnen und Lesern Beachtung finden könnten. (Georg Cavallar, 14.7.2018)